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Filme des JahresMehr Song wagen

Die Filme des Jahres zeigen Mut zum Musical und zu weiblichen Perspektiven. Das deutsche Kino will mit Mohammad Rasoulof einen Oscar holen.

Die Anwältin singt: Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) bei einer Tanzeinlage im Musical „Emilia Pérez“ Foto: Neue Visionen

Vielleicht muss man den Begriff „Abgesang“ wörtlich nehmen, zumindest für die Filme aus dem Jahr 2024. Die Entwicklung hin zu „mehr Song“ deutet sich zwar schon länger und mit Musicals wie „Annette“ von Leo Carax (2021) und einer steigenden Anzahl von Biopics über Mu­si­ke­r:in­nen (Amy Winehouse, Elton John, Freddie Mercury, Aretha Franklin) an. Aber so viel irres Musical wie jetzt war nie.

In ­„Wicked“ singen grüne und weiße Hexen sich seit Wochen auf die obersten Plätze der US-amerikanischen Kinocharts (es mag helfen, dass Ariana Grande, die weiße Hexe, bereits über Billboarderfahrung verfügt).

„Better Man“, der mit Jahresanfang startet, müsste eigentlich „Better Ape“ heißen, denn sein Protagonist Robbie ­Williams wird von einem computeranimierten Affen dargestellt, auf dessen Versatilität das Motion-Capture-Geschöpf „Caesar“ aus „Planet der Affen“ nur neidisch sein kann. Die isländische Filmmusik-Frau der Stunde, Hildur Guðnadóttir, hat den Score für die Mehrfachmord-Romanze „Joker: Folie à Deux“ komponiert und untergräbt dabei die Superheldenfilm-Erwartungen.

Irgendwo zwischen Räuberpistole und Selbstfindungsgruppe

Auch „Emilia Pérez“ mit seinem permanenten Druck auf die Tränendrüsen passt zu der großartigen Verve, mit der sich das Musical vom Format des Melodramas abstößt und irgendwo zwischen Räuberpistole und Selbstfindungsgruppe wieder aufkommt – Transitionen auf allen Kanälen.

Für Jacques Audiards opulenten Kartelltrip gab es nun Anfang Dezember nicht nur fünf Europäische Filmpreise, sondern er wird auch als bester französischer Film für den Oscar eingereicht.

Musik, das zeigt diese Entwicklung, ist als Sprache eben noch universaler als Film

Musik, das zeigt diese Entwicklung, ist als Sprache eben noch universaler als Film – was in einer Welt der Sprachverrohung, die Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten immer schwerer macht, doch ein Lichtblick sein könnte.

Auf der anderen Seite spiegeln sich ebenso die durch strukturellen Sexismus bedingten, tiefsitzenden Genderungerechtigkeiten in den diesjährigen filmischen Werken.

Knallt ordentlich, viel Blut

Mit „Blink Twice“ legte Zoë Kravitz einen nach außen Raffaello-Werbungs-glänzenden, aber nach innen verrotteten Rape-Revenge-Thriller vor, in dem die sexualisierte Gewalt gegen Frauen auf der Bildebene endlich einmal nahezu ausgespart wird. Was nicht heißen soll, dass es nicht ordentlich knallt. Aber das Blut stammt (fast ausschließlich) aus männlichen Körpern.

„The Substance“, ebenfalls mehrfach ausgezeichnet, fährt dagegen gleich kiloweise Frauenblut und -innereien auf – in ihrer nicht immer konzisen Horrorerzählung versucht Regisseurin Coralie Fargeat, den weiblichen Körper als Schlachtfeld für Lookismus und Ageismus abzubilden, hat dafür aber die falsche Darstellerin gecastet. Zu glauben, dass ausgerechnet die aus Ehrgeiz, Fleiß und Muckis bestehende Demi Moore wegen Altersdiskriminierung Jobs verliert, fällt bisweilen schwer.

Dennoch ist der Film ein Schritt auf dem Weg zu mehr weiblichem Genrekino – und der matschige ­Gedärmhaufen, der sich am Ende auf einen Hollywood-Walk-of-Fame-Stern schleppt, gehört zu den besten Bildern des Jahres.

Kitschromanze mit häuslicher Gewalt

„It Ends with Us“, inszeniert von Justin Baldoni (und damit einem Mann), aber basierend auf den Roman von Colleen Hoover, wählt einen komplett anderen Weg, um die Situation von Frauen darzustellen: Unter dem Deckmantel einer Kitsch­romanze mit frisch geföhnten Model-Schauspieler:innen erzählt er von der Verdrängung häuslicher Gewalt – und zwar so gründlich, dass es dem Publikum auch erst ganz allmählich und gemeinsam mit der Protagonistin (Blake Lively) dämmert.

Diese Trojanisches-Pferd-Strategie war ein Risiko. Dem Film wurde sein Groschenroman-Look vorgeworfen. Doch so schafft er es, sich auch in Beziehungen hineinzumogeln, in denen eine solche Verdrängung tatsächlich stattfindet. Und das ist dann wieder sehr politisch.

Einige deutsche Filmemacher versuchten sich in diesem Jahr recht umständlich und unlustig an humoristischer Gesellschaftskritik („Alter weißer Mann“, „Der Spitzname“). Witze über Wokeness fallen zumeist doch eher auf den Witzbold selbst zurück – geht es doch schließlich nicht darum, was man angeblich „nicht mehr sagen darf“, sondern wieso man es denn überhaupt sagen will. Sich über politische Korrektheit so lustig zu machen, dass es wirklich lustig ist, kann ohnehin nur Bora Dağtekin.

Strenges Dialogprotokoll

Mit Matthias Glasners „Sterben“ gab es aber den gelungenen Versuch, einfach einmal alles zu erzählen. Soleen Yusef bestätigte mit „Sieger sein“ ihre Sensibilität zum Thema Inte­gration. Und dass das als strenges Dialogprotokoll inszenierte Vier-Stunden-Werk „Die Er­mittlung“ den Zeitrahmen und damit die Form sprengte, war mehr als angemessen – wie soll ein Film auf Grundlage von ­Peter Weiss’ Thea­terstück über den Auschwitz-Prozess sich auch an Vorlagen halten, wo er ein solch monströses, die Form sprengendes Verbrechen beschreibt?

Auch Andreas Dresen widmete sich der politischen deutschen Vergangenheit und erzählt in „Alles Liebe, deine Hilde“ die berührende Geschichte einer Widerstandskämpferin gegen die Nazis. Nora Fingscheidts Drama „The Outrun“ porträtierte eine alkoholabhängige Frau, gespielt von Saoirse Ronan; genau wie Ed Berger mit „Konklave“, einem Vatikan-Thriller mit Ralph Fiennes, weisen beide Produktionen – wie andere – laut und deutlich den Weg zu mehr Koproduktion, mehr Internationalität, mehr globalem Erzählen.

Mohammad Rasoulof floh nach Deutschland

Genau wie die deutsche Oscar-Einreichung, der beeindruckende „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ – er stammt vom iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof, der vor der Premiere im Iran zu Gefängnis verurteilt wurde und nach Deutschland floh.

Eventuell als Konsequenz aus den vielen Fortsetzungen des Jahres gab es außerdem den Versuch, ein neues „Barbenheimer“-Phänomen zu küren – seltsame Kofferworte lassen sich besonders gut memesieren. Doch obwohl „Gladiator II“ und „Wicked“ Sequel und Prequel sind, die Kinocharts im Galopp stürmten und für den klassischen Zwist zwischen dem weiblich konnotierten Familien- und Selbst­ermächtigungsfilm und dem männlich konnotierten Actionfilm stehen könnten, klingt „Glicked“ tranig.

Vielleicht müsste man auch langsam mal damit anfangen, angebliche Gräben zwischen den Zu­schaue­r:in­nen beherzt zuzuschütten.

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