Film über Brandanschlag in Mölln: Den Opfern eine Plattform bieten
Der Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ erzählt leise von rechtsextremistischer Gewalt. Und von Behörden, deren Verhalten rätselhaft erscheint.
Das schleswig-holsteinische Mölln gehört, wie Hoyerswerda, Solingen, die verschiedenen NSU-Tatorte, München, Halle oder Hanau zur immer weiterwachsenden Landkarte mit Epizentren rassistischer oder antisemitischer Gewalttaten. Am 23. November 1992 warfen zwei Rechtsextremisten in Mölln Molotowcocktails auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser.
Die Bewohner:innen in der Ratzeburger Straße 13 konnten sich alle vor den Flammen retten, im Wohnhaus der Familie Arslan in der Mühlenstraße 9 kam drei Menschen um, neun weitere überlebten teils schwer verletzt.
İbrahim Arslan, Hauptprotagonist von Martina Priessners auf der Berlinale uraufgeführtem Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“, war als Siebenjähriger in dem Haus in der Mühlenstraße und hat dort Unvorstellbares erlebt. Er habe, erzählt er recht zu Beginn des Films, den Brandanschlag auf das Wohnhaus überlebt, weil seine Großmutter Bahide ihn in nasse Bettlaken gehüllt unter dem Küchentisch in Sicherheit gebracht habe.
Seine Oma kam bei dem Versuch, weitere zu retten, um. Auch seine zehnjährige Schwester Yeliz und seine vierzehnjährige Cousine Ayşe Yılmaz kamen ums Leben.
„Die Möllner Briefe“. Regie: Martina Priessner. Deutschland 2025, 96 Min.
Die Familie lange begleitet
Wenn er heute etwas Verbranntes rieche, erzählt İbrahim mit wachen Augen, komme alles wieder hoch. Dass es nie weg war, nie weg sein wird, das zeigt Priessners Film mit leiser Wucht. Über Jahre hinweg hat die Regisseurin den Mann und seine Familie beim Kampf um die den Opferfamilien vorenthaltene Solidarität begleitet.
Unvorstellbar, aber wahr: Hunderte Menschen schrieben den Familien in der Mühlenstraße und auch der Ratzeburger Straße nach den Anschlägen, doch die Briefe kamen nie bei den Betroffenen an. Entdeckt wurden sie erst 2019 durch Zufall von der Studentin Nora Zirkelbach während einer Recherche zu den Mordanschlägen im Möllner Stadtarchiv.
Sie informierte İbrahim, der die Briefe abholte und einen unvorstellbaren Schatz in den Händen hielt: Solidaritätsbekundungen von Privatpersonen, Kindern oder Vereinen, die in Auszügen im Film zu sehen sind. „Eine beschämte, eine zornige, eine unter tausend Deutschen“ ist ein Brief unterschrieben. „Es gibt auch andere Deutsche, und wir sind die Mehrheit, und wir werden nicht schweigen“, heißt es in einem anderen.
Warum kamen die Briefe nie an? An dieser Frage und der Aufarbeitung der Ereignisse hangelt sich „Die Möllner Briefe“ entlang und entwirft dabei das Porträt von Menschen im andauernden Ausnahmezustand. Für İbrahim ist seine akribische Aufklärungsarbeit auch eine selbsttherapeutische Maßnahme.
Kampf um Aufklärung
Er erzählt in Schulen seine Geschichte, trifft im Film Urheber:innen der Briefe, die diese teils als Kinder verfasst hatten. Er organisiert jährlich eine eigene Gedenkveranstaltung, weil jene der Stadt Mölln, wie er erzählt, die Betroffenen nur als „Statisten“ einlade. Und er trifft sich mehrfach mit dem Stadtarchivar, der Anfang der 1990er bereits im Dienst war und die Briefe gesammelt hat, und mit dem Bürgermeister, von dem er sich Solidarität auf Augenhöhe wünscht, in nicht wenigen Filmszenen allerdings leere Versprechen und politische Floskeln zu hören bekommt.
Ganz anders ergeht es İbrahims Bruder Namık, in dessen Körper sich der Schrecken aus der Vergangenheit buchstäblich hineingefressen hat. Er leide seit jeher an Stress und Angstzuständen und habe sich, wie er erzählt, „hinter dem Essen versteckt“. Weil Namık sich den Magen verkleinern lässt, verändert er sich im Laufe des Films radikal – ein Spiegel seiner Auseinandersetzung mit dem Trauma, das sich durch ein Tattoo mit einem brennenden Haus auch auf seinen Körper schreibt.
Martina Priessners Film erzählt konzentriert vom Kampf für Aufklärung und von strukturellem Rassismus. Wäre İbrahim Arslan nicht drangeblieben, würden die Briefe wohl immer noch ungesehen im Stadtarchiv verstauben – dass einige von ihnen, wie den Schreiber:innen damals mitgeteilt wurde, den Familien übergeben wurden, scheint schlicht gelogen. Mittlerweile wurden die Briefe an das DOMiD in Köln, das Dokumentationszentrum und Museum über Migration in Deutschland, übergeben.
Ein leiser Film
Priessner zeigt sich solidarisch mit den Familien, mehr noch: Sie bieten ihnen eine Plattform für ihre Geschichte. In dieser einseitigen Perspektivierung spiegelt sich eine gegenwärtig öfter anzutreffende dokumentarfilmische Haltung wider, auch „No Other Land“ über die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland oder „Das Deutsche Volk“, der den Hinterbliebenen des Anschlags von Hanau eine Stimme gibt, solidarisieren sich vorbehaltlos und suchen keine Objektivität.
Dass dabei die Grenze zwischen Aktivismus und Dokumentation schmaler wird, liegt in der Natur der Sache. Von Ersterem ist die „Die Möllner Briefe“ allerdings weit entfernt. Es ist ein leiser Film, der aus dem Damals direkt in unsere immer weiter ins Rechtsnationale kippende Gegenwart sticht. Wie sagt einmal jemand: „Erinnern heißt handeln.“
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