Film „Die, My Love“: Gnade dem Tier in mir
„Die, My Love“ ist ein Film, der nicht verstanden, sondern ertragen werden will – darin zeigt Lynne Ramsay, was Kino kann, wenn es nicht erklärt.
Mit einem einzigen und unbewegten Blick beginnt es: Die Kamera schaut aus dem Inneren eines Hauses, als betrachte sie das Menschliche von einem Ort aus, an dem es bereits vergangen ist. Grace (Jennifer Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson) fahren mit dem Pick-up vor. Kein Schnitt, kein Übergang, als das junge Paar in das eintritt, was ein Neuanfang sein soll und zumindest für Jackson die Möglichkeit auf Glück enthält.
Die alten Blumentapeten mögen aus der Zeit gefallen wirken, Laub auf dem knarrenden Dielenboden verstreut liegen. Er aber zeichnet sofort, was zwischen diesen Wänden sein könnte. Ein Album könne er hier drin aufnehmen, schwärmt er. Und Grace könnte den ganzen Tag lang schreiben, mit nichts als Vogelgezwitscher, das sie stören würde.
Es ist eine prophetische Sequenz, mit der „Die, My Love“ eröffnet. Prophetisch jedoch in einem anderen Sinn, als Jacksons Zukunftsfantasie es vermuten lässt. Denn so euphorisch seine Worte klingen mögen, so wenig dringen sie zu Grace durch. Sie wandelt zögernd durch das Haus, streichelt ihr Schwangerschaftsbäuchlein und fragt Jackson, wie sein Onkel Frank, von dem sie dieses Stück Land nun erben, noch mal gestorben sei.
„Die, My Love“. Regie: Lynne Ramsay. Mit Jennifer Lawrence, Robert Pattinson u.a. Vereinigtes Königreich/USA, 118 Min.
Die Frage nach dem Tod ist es, und das fahle Licht, das durch die Fenster fällt, die Schatten eines Hauses, das niemals ganz hell zu werden scheint, die all das bereits andeuten, was kommen wird: Hinter der vermeintlichen Idylle liegt kein Zauber und kein Anfang, sondern etwas, das sich wie ein Fluch anfühlt, wie ein unabwendbarer Abstieg.
Was Grace in ihrem Innersten quält, das wagt „Die, My Love“ ebenso wenig zu vereindeutigen wie die gleichnamige Romanvorlage der argentinischen Schriftstellerin Ariana Harwicz. Doch wie schon das Buch hält auch seine Adaption unerschütterlich an ihrer Perspektive fest, folgt ihr in flüchtigen Stimmungen und fiebrigen Regungen, und lässt teilhaben an jenem Aufruhr ihrer Seele, der sich in beinahe jeder ihrer Gesten und Blicke mitteilt.
Jenseits jeder Halt versprechenden Kausalität
Wer es sich leicht machen will, der wird das Werk als einen erschütternden Psychothriller über eine postnatale Depression beschreiben und es damit sogleich fälschlicherweise auf das modische Diskursschlagwort „Regretting Motherhood“ reduziert haben. Zwar haben sich die Dinge für Grace bereits drastisch verschlechtert, als der Film sie wenige Schnitte später zeigt – mit einem Küchenmesser in der Hand, auf allen Vieren auf der Wiese vor dem Haus, einem Raubtier gleich, das sich langsam auf ihren unaufhörlich Bier trinkenden und Bademantel tragenden Gatten und ihr quengelndes Baby zubewegt.
Doch was in ihr gärt, bleibt schwer zu fassen und wirkt dadurch umso verstörender. Gäbe es eine klare Ursache, ließe sie sich vielleicht erkennen und – im Sinne einer therapeutischen Ordnung, die aus jedem Schmerz am liebsten ein handliches und leicht wegzurationalisierendes Symptom machte – beheben.
Was hier wütet, ist aber formlos, widerspenstig, äußert sich bald in gegen sich selbst gerichtete Gewalt, und entzieht sich jeder einfachen, Halt versprechenden Kausalität. Grace hört auf zu funktionieren, wird lethargisch, vernachlässigt den Haushalt und sich selbst, ergeht sich in endloser Langeweile und in etwas, von dem nicht immer klar ist, ob es bloße Fantasterei oder Verzweiflungstat ist.
Damit kehrt Lynne Ramsay rund acht Jahre nach ihrem letzten Spielfilm „A Beautiful Day“ (2017) mit einem Werk zurück, das sich nahtlos in ihr bisher leider nur sehr schmales Œuvre einfügt.
Schon in „We Need to Talk About Kevin“ (2011), ihrem Porträt einer Mutter, die am Tätersein ihres Sohnes zerbricht, interessierte sich die schottische Regisseurin weniger für das „Warum“ als für das „Wie“ des Schmerzes: Die Art, wie er sich in den Körper einschreibt, seine Gestalt, seine Dauer, seine unheilvolle Schönheit.
Wie in einem luftleeren Raum gefangen
„Die, My Love“ führt diese Haltung radikal fort und zeigt Grace etwa, wie sie nachts apathisch erwacht, das weinende Kind beruhigt, danach an den Schreibtisch tritt und gedankenverloren Tintenkleckse aufs leere Papier streut, ehe sich aus der nach dem Stillen unbedeckt gebliebenen, halb vergessenen Brust ein paar Tropfen Muttermilch hinzumischen – als verwischte sich der Traum vom Schreiben mit der Wirklichkeit.
Einen Moment später fließen die Bilder ineinander: Aus dem Weiß des Papiers wird das Schwarz des nächtlichen Himmels. Grace steht neben ihrem Mann, der sagt, er fühle sich beim Blick in die Sterne als Teil eines großen Ganzen, sie hingegen nur wie ein „Nichts“.
In seinem mitunter poetisch aufgeladenen Schrecken vor der plötzlichen existenziellen Leere erinnert „Die, My Love“ sehr an Sylvia Plaths einzigen Roman „Die Glasglocke“. Auch Grace ist wie in einem luftleeren Raum gefangen, atemlos und abgesondert von ihren wohlmeinenden Mitmenschen, die mit belanglosen Gesprächen und Selbstvergewisserungsritualen zwischen Kindergeburtstagen und „Kaffee und Kuchen“ zufrieden scheinen, und ihr dadurch wie unheimliche Fremde.
Aufbegehren wie ein Tier im Käfig
Zwar verlegen Lynne Ramsay und ihre Co-Autoren Alice Birch und Enda Walsh den Schauplatz von der französischen Peripherie in ein ländliches Montana. Doch scheint das, was Kameramann Seamus McGarvey („Abbitte“) in graugrün und nikotingelb leuchtende Bilder übersetzt, vor allem wie ein assoziativer Nichtort – übertragbar auf die Abgeschiedenheit eines jeden Dorfes, in dem sich weibliche Lebensentwürfe abseits patriarchal geprägter Vorstellungen kaum einmal denken lassen.
Für Grace kippt die trügerische Ruhe umso mehr in eine erstickende Starre, als sich mit Jackson ihr einziger Verbündeter im Unangepasstsein immer weiter abwendet und aus einem romantischen „Wir gegen den Rest der Welt“ ein „Ich gegen alle anderen“ wird. Denn der Mann, der, wie sie, einst vom Ausbruch aus dem grauen Alltag zu träumen schien, zu lauter Musik durchs Haus hüpfte, Witze machte und mit ihr viel spontanen Sex hatte, fügt sich nun in jene Logik, die sie kaum noch erträgt, und ist ihr – wie der beiläufige Blick auf eine immer neue Kondompackung im Handschuhfach verrät – obendrein untreu.
Das Schweigen und das ständige Vorgeben, als sei alles in Ordnung, kann Grace nur mit Schwiegermutter Pam (Sissy Spacek) brechen. Aber auch das nur in Andeutungen, denn obwohl Pam den Suizid ihres Mannes zu verkraften hat, ist sie schon zu festgefahren im Gebot, die Harmonie zu wahren. Wo Wortlosigkeit herrscht, bleibt in „Die, My Love“ nur noch die körperliche Rebellion. Grace begehrt auf wie ein Tier im Käfig – „God help the Beast in Me“ von Johnny Cash erklingt passenderweise im Film –, das sich die Krallen aufkratzt und den Kopf blutig schlägt.
Körper als Projektionsfläche existenzieller Zustände
Kaum jemand könnte diese Rolle glaubhafter verkörpern als Jennifer Lawrence. Schon in Darren Aronofskys „mother!“ bewies sie eine seltene Furchtlosigkeit, den Körper zur Projektionsfläche existenzieller Zustände zu machen – hier aber treibt sie das mit aller schauspielerischen Macht weiter. Sie zieht Grimassen, wenn ihre Figur auf das wohltemperierte Gerede der anderen, das ihre eigene Sprachlosigkeit nur lauter macht, nicht mehr anders zu reagieren weiß. Und sie überzeugt ebenso, wenn plötzlich jede Regung in diesem Gesicht versiegt, wenn nach der Wut nichts mehr als Resignation bleibt. Jennifer Lawrence spielt nicht nur eine Frau, die an der Welt zerbricht, sie zeigt, wie das Zerbrechen aussieht, wie es klingt, wie es atmet.
Gerade darin liegt die Wucht von „Die, My Love“: In der kompromisslosen Übersetzung innerer Zustände in Bilder und Klänge, in eine Form von Kino, die das Unsagbare nicht erklärt, sondern fühlbar macht. Lynne Ramsays Film stemmt sich gegen die Sprachlosigkeit ebenso wie gegen die Bequemlichkeit des sinnhaften Deutens – und findet in der Verzweiflung seiner Protagonistin eine eigene, wilde Form der Wahrheit. Ein Film, der fordert, weil er keine Distanz erlaubt, der im Ungeklärten endet und gerade darin nachhallt.
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