Feuerattacke auf Obdachlosen: Die Anklage wackelt

Am Dienstag wird das Urteil im Prozess gegen sechs Flüchtlinge erwartet, die einen Obdachlosen angezündet haben sollen.

Brandflecken an der Bank im U-Bahnhof Schönleinstraße – ein knappes halbes Jahr nach der Tat Foto: dpa

Es dauerte einen Moment, bis die Botschaft bei den jungen Männern ankam. Seit über fünf Monaten sitzen sie wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft. Die Wende in dem seit Mai andauernden Prozess hatte sich zwar abgezeichnet. Aber sie war erst bei der Urteilsverkündung in den nächsten Tagen erwartet worden.

Es kam anders. Am vergangenen Freitag gegen 15 Uhr verkündete die Vorsitzende Richterin der 13. Jugendstrafkammer den Beschluss: Die Haftbefehle von fünf der sechs Angeklagten seien aufgehoben, sagte Regina Alex.

Ein, zwei Sekunden verstrichen, dann ging ein Strahlen über die Gesichter der Angeklagten. Einer riss kurz die Arme in die Höhe. Aber die Freude war still. Erst draußen auf dem ­Gerichtsflur, wo sie von Familienangehörigen und Betreuern in die Arme geschlossen wurden, kam es zu stürmischen Szenen.

Nur einer durfte den Saal nicht verlassen und schaute traurig: Der 21-jährige Hauptangeklagte Nour N. Er bleibt weiter in Haft. N. war derjenige, der im Beisein der anderen am 25. Dezember 2016 auf dem U-Bahnhof Schönleinstraße ein brennendes Taschentuch neben den auf einer Bank schlafenden Obdachlosen gelegt hatte.

Ein 37-jähriger Mann hat nach Polizeiangaben am S-Bahnhof Frankfurter Allee am frühen Samstagmorgen auf zwei schlafende Obdachlose eingeprügelt und -getreten. Dabei habe er laut Zeugen nationalsozialistische Parolen gerufen.

Der Mann soll zunächst auf einen 52-jährigen Obdachlosen eingeschlagen und dann auf einen daneben liegenden 65-Jährigen eingetreten haben. Dann habe er mit einer Metallstange nach Fußgängern geworfen und sei geflüchtet, teilten Sicherheitskräfte mit.

Beamte nahmen den mutmaßlichen Täter in der Rigaer Straße fest. Der Staatsschutz ermittelt. Das 52-jährige Opfer erlitt bei der Attacke Verletzungen im Gesicht und wurde ambulant behandelt. Der 65-Jährige lehnte eine ärztliche Behandlung ab. (dpa)

Noch am 16. Mai hatte das Gericht bei allen sechs Angeklagten Haftfortdauer angeordnet. Zu diesem Zeitpunkt war die Beweisaufnahme in dem Prozess schon ziemlich fortgeschritten: Die zehnminütigen tonlosen Aufzeichnungen der Überwachungskameras des U-Bahnhofs waren gezeigt und diverse Beamte der 4. Mordkommission als Zeugen gehört worden.

Klar war zu dem Zeitpunkt bereits, dass die Aussagen, mit denen sich einige der minderjährigen Angeklagten bei der Kripo zum Teil selbst belastet hatten, vom Gericht nicht verwertet werden. Der Grund: Jugendliche haben das Recht, dass ein Erziehungsberechtigter bei der polizeilichen Vernehmung dabei ist. Die Ermittler hatten die Eltern beziehungsweise Vormünder aber nicht ausreichend über deren Konsultationsrecht aufgeklärt.

Das Beweisverwertungsverbot begründete die Vorsitzende Alex so: „Jugendliche sind wesentlich geständnisfreudiger als Erwachsene.“ Deutlicher sagte es einer der Verteidiger: Die Beamten der Mordkommission wüssten, wie man Jugendliche zum Reden bringe. Ein bisschen Einschüchterung und Überrumpelung – schon sprudele das Gegenüber.

Regina Alex, Richterin

„Jugendliche sind wesentlich geständnisfreudiger als Erwachsene“

Schon am 16. Mai waren die Verteidiger der Meinung, mit dem Verwertungsverbot sei die tragende Säule der Anklage weggebrochen. Aber die Wende kam erst am Freitag. Das Gericht signalisierte, dass die Tat des Hauptangeklagten auch als versuchte gefährliche Körperverletzung gewertet werden könnte. Und die der Mitangeklagten als Beihilfe.

Der Medienandrang zu Beginn des Verfahrens war riesig. Die Tat hatte weit über Berlin hinaus Entsetzen ausgelöst. Dem Schlafenden war zwar nichts passiert, Fahrgäste hatten ihn rechtzeitig geweckt und den brennenden Rucksack unter seinem Kopf weggerissen. Aber es gibt wohl kaum etwas schäbigeres, als sein Mütchen an einem wehrlosen Obdachlosen zu kühlen.

Dass der Fall solche Wellen schlug, hatte aber auch damit zu tun, dass die Tatverdächtigen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren Flüchtlinge sind. Alle, auch die beiden staatenlosen Palästinenser sind in Syrien aufgewachsen. Einige sind allein ohne Eltern über Libyen nach Deutschland gekommen, andere sind über die Balkanroute geflohen. Eine Berichterstatterin, die den Prozess für einen privaten Fernsehsender verfolgte, empörte sich auf dem Gerichtsflur mit den Worten: „Wenn wir sie schon in Deutschland aufnehmen, kann man erwarten, dass sie sich anständig benehmen.“

Die Bilder der Überwachungskameras zeigen, dass der Feuerschein stetig größer wird. Aber versuchter Mord? In einem Gespräch unter vier Augen vermutete einer der Verteidiger: Wären Zehlendorfer Jugendliche die Tatverdächtigen gewesen, hätten Polizei und Staatsanwaltschaft den Fall nicht so hoch gehängt. Er könne das aber nicht belegen, sagt der Anwalt und möchte deshalb nicht namentlich zitiert werden.

Dass die Angeklagten Flüchtlinge seien, sei für die Schuldfeststellung gänzlich unerheblich, sagte Staatsanwalt Martin Glage am Freitag in seinem Plädoyer. Den versuchten Mord hält er nach wie vor für erwiesen. Der Tötungsvorsatz – „eine spontane Entscheidung“ – sei durch die Videos belegt. Alle Angeklagten hätten die Flammen gesehen und gewusst, wie gefährlich das sein könne.

Für den Hauptangeklagten beantragte Glage vier Jahre Haft. Für die fünf Mitangeklagten Strafen von zwei Jahren auf Bewährung bis zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft. Die Verteidiger plädieren am heutigen Dienstag, möglicherweise gibt es dann auch das Urteil.

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