„Feuchtgebiete“ im Kino: „Iiih, bäh, wow“ in Maßen
David Wnendts Spielfilm „Feuchtgebiete“ rettet einiges vom emanzipatorischen Potenzial des Buches. Auch handwerklich ist der Film gut.
Da ist sie dann also, die logische Fortsetzung der Produktkette, die unvermeidliche Verfilmung des millionenfach verkauften pinkfarbenen Buchs mit dem Pflaster drauf. Dieses Buch, das seine Autorin, einstige Viva-Moderatorin Charlotte Roche, noch berühmter und definitiv noch reicher gemacht hat.
Dieses Buch, das das Literaturjahr 2008 mit seinen 30 Wochen an der Spitze der Bestseller-Listen recht nachhaltig dominiert hat, weil es ihm – wie „Shades of Grey“ danach – im Handstreich gelang, zugleich mediales Skandalon und massenhaft verbreitete Populärkultur zu sein. Dieses Buch, das sogar seine Autorin für „eigentlich unverfilmbar“ hielt.
Das Marketing für die Kinoadaption, an der bereits seit 2009, auch mit Mitteln aus Filmfördertöpfen, im raunenden Geheimen gearbeitet wurde, versucht nun, den mittlerweile verebbten Buzz um den Roman wieder anschwellen zu lassen. Da wird gemeldet, Hauptdarstellerin Carla Juri habe beim Dreh „ein Vagina-Double“ gehabt.
Da kreischt der Boulevard schon im Vorfeld lustvoll, dass der „Skandalfilm des Jahres“ alle „Ekelgrenzen“ überschreite. Da sperrt das diensteifrige Sozialmedium Facebook tatsächlich den Trailer, angeblich wegen seiner „aufreizenden und sexuell expliziten Inhalte“.
„Feuchtgebiete“. Regie: David Wnendt. Mit Carla Juri, Meret Becker u. a. Deutschland 2013, 109 Min.
Die Marketingmaschine läuft wie geschmiert. Nur das Filmfestival von Locarno spielt nicht mit und bedenkt die „Feuchtgebiete“, die im Wettbewerb liefen und voreilig in der Favoritenrolle gehandelt wurden, mit keinem der mannigfaltigen Haupt- und Nebenpreise.
Vielleicht ist es eben doch nicht genug, einen Film nur deswegen zu machen, weil man beweisen will, dass man in der Lage ist, eine Romanadaption hinzukriegen, die der durchschnittlichsten aller Erwartungen absolut gerecht wird. Nämlich: ein vitales, amüsantes, junges, schnelles, unverblümtes, bloß nicht mutloses, oh nein, sondern dosiert zeigefreudiges und die Durchschnittsdeutschen-Ekelschwelle exakt minimal unterschreitendes Mainstream-Produkt auf die Reihe zu kriegen. Inklusive etwas ausgeschmücktem romantischem Happy End.
Stolz auf die jugendliche Coolness
Es also zu schaffen, genau den Punkt zu treffen, bei dem einige wenige entrüstet den Kinosaal verlassen, die meisten aber, voll des Stolzes auf ihre ach so jugendliche Coolness und Abgebrühtheit, im Sessel sitzen bleiben – um dann tatsächlich mit einem kathartischen Kuss im strömenden Regen und dem hippieesken Aufbruch in ein neues, aufgeräumteres Leben im VW-Bus belohnt zu werden.
Regisseur David Wnendt, der mit seinem sehenswerten Hochschulabschlussfilm „Kriegerin“ (2011) über eine junge Frau in der Neonazi-Szene Ostdeutschlands zu Bekanntheit gelangte und auch am „Feuchtgebiete“-Drehbuch mitschrieb, hat seine schwierige Aufgabe nach Kassenschlagerkriterien ziemlich souverän gelöst. Er weicht den knalligen „Iiih, bäh, wow“-Szenen des Buchs nicht aus, sondern gibt der Meute, was sie will. Nicht zu wenig, nicht zu viel.
Und Wnendt nutzt sein Medium gut, um die diversen Schwächen des Buchs auszumerzen. So blieb die Icherzählerin Helen im Buch doch immer gesichtslos, wenig greifbar. Da ist Wendts Ins-Bild-Setzung eine durchaus angenehm konkrete Angelegenheit, und Hauptdarstellerin Carla Juri als Skateboard fahrende Helen mit durchlöcherten Bad-Religion-Shirts, abblätternden Nägeln und pinkfarbener Unterhose als verjüngte Ausgabe der Elektrorockmusikerin Peaches ein Mädchen, das erst mal für sich steht.
Vögeln gegen die Angst
Charmant gleitet die im Tessin aufgewachsene Schweizerin Carla Juri als einzelgängerische, neugierige Helen durch die episodischen Szenen. Sie ist hier eine junge Frau am Ende ihrer Teenagerjahre, die gegen böse Erinnerungen, seelische Verletzungen, getrennte Eltern, Einsamkeit und Angst vor dem Sterben anflirtet, -vögelt, -feiert und -experimentiert.
Mit ihren 27 Jahren sieht Juri manchmal zu alt aus für ihre 18-jährige Figur – und ihr italienisch-schweizerdeutscher Akzent steht oft zu quer zum Berliner Setting. Aber Juris Helen hat eine gewisse „Straßenglaubwürdigkeit“ und ist weder zu einer total durchgeknallten Tussi noch einem unerträglichen Naivchen geworden, was bei Roches unentschiedener Konturierung durchaus hätte passieren können.
Auch in handwerklicher Hinsicht ist der Film besser als das Buch. Die unerträglichen Längen des Romans, seine so unlektoriert wirkende extreme Verlangsamung in der zweiten Hälfte, bleiben dem Kinopublikum über weite Strecken erspart. Einige Motive des Buchs – Helens absichtlich vernachlässigte Intimhygiene und ihr Avokadokern-Fetisch – werden einigermaßen fantasievoll zu kurzen, poppigen Animationen verdichtet. Das filmische Mittel der Rückblende steht der dramaturgischen Konsistenz auch besser zu Gesicht als Roches unvermittelt eingestreute Reflexions- und Vergangenheitsschnipsel.
Schamfreie Icherzählerin als versehrtes Scheidungskind
Die Szenen sind gut zusammengebaut aus dem Flickwerk des Romans, ein paar zusätzliche Episoden sind schlüssig, und die NebendarstellerInnen – Meret Becker als Mutter, Axel Milberg als Vater, Edgar Selge als Proktologe, Marlen Kruse als beste Freundin und Christoph Letkowski als Robin – machen einen wirklich guten Job.
Überraschend baut der Film auch das, was bei dem Roman am ärgerlichsten war, zu seiner größten Stärke aus. Denn es war grauenvoll, wie Roche den quasipornografischen Glamour und den Kitzel der Grenzüberschreitung, aber auch die schöne Offenheit im tabulosen Sprechen über weibliche Körperhaftigkeit und Helens Experimentierfreude hinterrücks an eine lahme, altmodisch psychologisierende Erklärung auslieferte.
Schließlich schälte sich die so schön schamfreie Icherzählerin als versehrtes Scheidungskind heraus, dessen unübliches Verhalten als medizinisch behandlungswürdiges Symptom wegerklärt wurde. Ein sehr gemeiner Verrat der Autorin am emanzipatorischen Potenzial ihrer Protagonistin.
Die Verfilmung ändert an diesem Setting grundsätzlich nichts. Auch hier schleppt Helen ein seelisch unverarbeitetes Päckchen mit sich herum, das leider als Erklärung für ihre Umtriebigkeit herhalten muss. Trotzdem: Dem Film verzeiht man das eher. Denn durch die Bebilderung der bei Roche nur angedeuteten Kindheitserlebnisse richtet sich das Augenmerk hier so sehr auf die familiäre Situation, dass dabei plötzlich ein einigermaßen taugliches Coming-of-Age-Drama herauskommt.
Rückgriff auf ein stilistisches Mittel des Horrorfilms
Die vielen Seitenblicke auf den unaufmerksamen, egoman-lebemännischen Vater, die fahl-bigotte, depressive Mutter und die unwahrscheinliche Freundschaft zur freundlichen Corinna sind für die Konturierung der Figur Helens eine große Bereicherung.
Der Rückgriff auf ein stilistisches Mittel des Horrorfilms – die hochkommende Erinnerung an ein verdrängtes Schrecknis, die immer wieder abbricht, aber mit jeder Wiederholung mehr preisgibt – generiert ein griffiges Zentraltrauma, das, sobald die Erinnerung dann vollständig ist, auch gleich überwunden werden kann. Was der Figur Helens eine richtige Entwicklung beschert, die das Buch ihr so nicht zugestand.
Sicher, alles in allem ist der Film dem Buch doch noch so hörig, dass er die „Ekelszenen“ als eigentlich zu grelles Dekor für die ja immer noch recht flache Geschichte stilisiert. Weswegen man sich beim Zusehen häufig so fühlt, als riefe dieser Film einen spätpubertären Wettbewerb aus, als tanze er vor einem herum, schüttele seine kleinen Fäuste und riefe: Na, kommst du klar mit der platzenden Wundblase am Anus? Und den blutigen OP-Resten?
Dieses Gefühl der knapp am wahren Gegner vorbei ins Leere zielenden Provokation nervt genauso wie das filmüberreife Ende mit dem Pfleger (ausgerechnet! Hallo, Feminismus?) im Regen. Letztlich ist dieser so skandalöse Film genau wie das so skandalöse Buch nur in homöopathischen, rein dekorativen Dosen skandalös. Und damit entsetzlich mutlos.
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