Filmemacher Zellner zu „Kid-Thing“: „Annie sieht die Welt mysteriöser“
Der texanische Independentfilmer David Zellner erzählt aus der Perspektive eines Mädchens. Einige Szenen spielen im Wald, den er als Kind selbst unheimlich fand.
„Hilfe, so helft mir doch, Hilfe.“ Eine weinerliche Frauenstimme ist aus einem Schacht zu vernehmen, der in David Zellners „Kid-Thing“ einfach so mitten in einem Wald in Texas liegt. Das Mädchen Annie vernimmt den Ruf, weiß aber nicht so recht, wie es sich verhalten soll.
Eineinhalb Jahre nach der Premiere im Forum der Berlinale kommt „Kid-Thing“ in Deutschland in die Kinos – einer der interessantesten Filme aus der ebenso heterogenen wie spannenden Szene des US-amerikanischen Independentkinos. Anlässlich einer Premiere kam David Zellner aus Austin, Texas, nach Berlin und fand in einem Hotel in Neukölln Zeit für ein Gespräch.
taz: Herr Zellner, Ihr Film „Kid-Thing“ beginnt mit einer markanten Szene. Was ist da eigentlich zu sehen: Automobil-Mudwrestling?
David Zellner: Das heißt „Demolition Derby“, ein typisches Vergnügen unter Leuten wie denen, von denen „Kid-Thing“ erzählt. Auffrisierte Autos, tiefer Boden, und dann geht es eben darum, welches Auto trotz aller Demolierungen am längsten fährt.
Nicht gerade die Veranstaltung, zu der man als fürsorgliches Elternteil ein halbwüchsiges Mädchen mitnehmen würde. Doch für Annie ist das Alltag.
Wir haben die Szene auch so gefilmt, dass es in etwa ihrer Perspektive entspricht, also keine Draufsicht, sondern eher auf Höhe der Kühlerhauben.
wurde in Greeley, Colorado geboren. Wie sein Bruder Nathan, mit dem er immer wieder bei Filmen zusammenarbeitet, lebt er in Austin, Texas. Im Jahr 2001 kam der Film "Frontier" heraus, 2008 "Goliath". Als sie einmal Geld für einen Film über Kickstarter aufzutreiben versuchten, versprachen sie im Gegenzug einen "Slow Dance" mit einem der beiden Brüder zu "I Want to Know What Love Is" von Foreigner. Sehr ergiebig ist ihre gemeinsame Website.
Wir sehen dadurch die Lenker kaum, dafür sehen die Demolition-Autos aber aus wie Bestien, die aufeinander losgehen. Und damit ist schon die befremdliche Qualität der Wirklichkeiten etabliert, von denen „Kid-Thing“ erzählt.
Genau. Wir wollten so erzählen, dass wir die Perspektive von Annie teilen können, auch ihre Logik, die sich unterscheidet von der anderer Kinder und von der Erwachsener sowieso. Annie sieht die Welt mysteriöser, ein wenig verzerrter. Zugleich sollte der Film aber zugänglich bleiben.
Annie entdeckt in einem Wald einen Schacht, aus dem sie eine Stimme hört. Wie kommt man auf so eine Idee?
Eine Geschichte braucht ein Element des Unbekannten, etwas, auf das es nicht sofort eine visuell offensichtliche Antwort gibt. Wir wollten etwas, das Grenzen setzt in Hinsicht auf das, was man zeigen kann. Mit computergenerierten Bildern kann man heute alles zeigen, es gibt kaum noch Geheimnisse. „Kid-Thing“ hat ein großes Geheimnis: unzugängliche Dunkelheit, eine Höhle, eine Öffnung, die ins Offene führt, denn wir wissen ja nicht, wie tief der Schacht ist.
Annie glaubt ja, er führe direkt in die Hölle. Sie interpretiert das Problem also zuerst einmal mythologisch. Ist Ester so etwas wie eine Sphinx?
Das rührt an einen wesentlichen Aspekt. Als ich klein war, las ich begeistert Grimms Märchen, aber auch die griechischen Sagen. Ich fand dort dunklere Themen, die auf eine konkrete, aber verschlüsselte Weise angesprochen wurden. Kinderliteratur ist in Amerika häufig sehr simplifiziert, in der Bücherei konnte man damals nur in der Märchenabteilung an die interessanten Geschichten kommen. Dazu kam der Wald, in dem wir auch als Kinder spielten, und der für uns immer eine „frontier“ war, eine Grenze zum Unbekannten. Dort konnte immer etwas passieren, was im Garten nicht denkbar war. Die Imagination verselbstständigte sich.
Ester stellt für Annie auch eine Aufgabe dar. Sie braucht Hilfe. So wird „Kid-Thing“ auch zu einer Parabel über soziales Lernen, oder auch asoziales Lernen, weil Annie ja von ihrem Vater, aber auch von sonst niemand Rat bekommt.
In diesem Alter lernt man gerade den Unterschied zwischen Gut und Böse zu begreifen, und vor allem die Grauzonen dazwischen. Wie verarbeiten Kinder das? Annie hat ein etwas komplizierteres Leben, weil sie sehr auf sich allein gestellt ist. So ist dieses „morality play“ für sie auch komplexer. Dazu kommt, dass sie mit Ester eine menschliche Interaktion hat, wie sie sonst in ihrem Leben fehlt. Zugleich ist aber eben unklar, inwiefern Ester menschlich ist.
Ist die Welt von „Kid-Thing“ – ein alleinerziehender Vater, der mit Hühnern besser kommuniziert als mit seiner Tochter, ein stromerndes Kind – irgendwie repräsentativ für die soziale Wirklichkeit des ländlichen Texas?
Das sollte man natürlich nicht verallgemeinern, aber solche Familien gibt es. Uns lag aber sehr daran, dass der Vater nicht gewalttätig ist. Er ist wahrscheinlich Alkoholiker, aber er tut Annie nichts. Er ist vor allem abwesend, er bemüht sich ja, aber seine Bemühungen sind hilflos. Es sollte auch nicht so aussehen, als wäre sie einfach das „Produkt“ dieser Familie.
Jedenfalls ist „Kid-Thing“ nicht sehr erhebend für Menschen, denen vor allem an „family values“ gelegen ist, wie es in Amerika häufig der Fall ist.
Es fehlt eine Mutterfigur. Ester kommt dem noch am nächsten. Wir wollten Annies Isolation verstärken durch das Fehlen einer weiblichen Figur. Zu den wichtigen Erfahrungen der Kindheit gehört auch, dass die Eltern nicht allmächtig sind. Sie wissen auch nicht so viel mehr, sie sind nur schon länger da, manchmal haben sie es aber eben auch schon aufgegeben, das Leben in den Griff zu kriegen.
Die Schauspielerin, die Ester spielt, bekommen wir nicht zu Gesicht. Sie ist aber prominent besetzt.
Susan Tyrell ist eine meiner Lieblingsschauspielerinnen. Denken wir nur an „Forbidden Zone“, „Fat City“, „Cry Baby“. Sie spielt meistens ziemlich theatralisch und bombastisch, „larger than life“. Sie hat auch nie so auf ihr Image geachtet, wie das andere Stars tun, sondern war sehr offen. Sie lebt seit einiger Zeit in Austin, weil ihre Familie hier ist. Wir wurden Freunde, und als „Kid-Thing“ konkret wurde, sagte sie gleich zu. Ich weiß gar nicht, ob wir den Film ohne sie gemacht hätten. Sie fügt dieses Element des Fantastischen hinzu, und eine Menge Emotion: Angst, Trauer, Zorn, Staunen, und alles nur mit ihrer Stimme.
Originell ist auch der Soundtrack von „Kid-Thing“, der gar nicht unmittelbar in diese Welt zu passen scheint.
Am Anfang steht eine Komposition von François de Roubaix, ein verträumtes Stück, aber auch ein wenig unheimlich. Diese Balance suchte ich für den Film. Für den Original Score haben wir „The Octopus Project“ gewählt, auch da bleibt immer ein Rest des Unheimlichen. Wir wollten auch keinen durchgehenden Soundtrack machen (keine „Wall to Wall“-Musik), das ist für meine Begriffe der Sache abträglich. Bei uns kommt die Musik mit mehr Bedacht, zugleich vermischen sich Musik und natürlicher Ton. Auf das Sounddesign haben wir viel Arbeit verwendet.
Manchmal wird die Filmerzählung mit der Musik beinahe autonom, die Handlung hat Pause.
Ein Zwischenspiel – das ist etwas, was mit sehr angelegen ist. Musik inspiriert mich eigentlich mehr als andere Filme. Die Musik, die ich so höre, kommt dann nicht notwendig in den Film, aber sie prägt ihn indirekt. Musik ist einfach geheimnisvoll, ich komme nicht dahinter, das ist perfekt.
Sie arbeiten mit Ihrem Bruder Nathan zusammen, der in „Kid-Thing“ auch mitspielt. Wie kamen Sie zum Kino?
Ich wollte immer schon Filme machen, seit ich denken kann. Mein Bruder ist zwei Jahre jünger, wir haben mit Super 8 und VHS begonnen. Ganz klassisch haben wir Filme, die wir irgendwo gesehen haben, daheim nachgemacht. Aus heutiger Sicht ist das vielleicht ein wenig peinlich, aber eigentlich war das so, wie Annie auch das Leben erforscht. Wir waren kleine Wissenschaftler und haben Experimente gemacht. Und plötzlich bist du 20 und machst das immer noch. Du lernst aus deinen Fehlern, es gab aber nie eine Unterbrechung, also ging ich zur Filmschule und schloss sie auch ab. Nathan hat Computertechnik studiert. Er ist eher technisch interessiert, ich bin eher der Kreative, so ergänzen wir uns.