Festival „The Power of Powerlessness“: Sternbild der Machtlosigkeit
Depressive Künstler, Drogenmissbrauch, Foucault: Das Berliner Hebbel am Ufer widmet sich aktuellen Diskursen zu Macht und Ohnmacht.
![Junger Mann mit Mikro vor Leinwand Junger Mann mit Mikro vor Leinwand](https://taz.de/picture/442647/14/machtundohnmacht_hau.jpg)
Whitney Houston lag am 11. Februar 2012 tot in der Badewanne eines Hotelzimmers in Beverly Hills. Ein Cocktail aus Kokain, Medikamenten wie dem Angstlöser Xanax und Alkohol soll schuld gewesen sein. Overdosed. Im gleichen Winter nahm auch der US-amerikanische Performance-Künstler Zachary Oberzan eine Überdosis Xanax, auch er lag bewusstlos in einem Hotelzimmer, ebenfalls an der Westküste. Er überlebte.
Die Koinzidenz dieser beiden Vorfälle hat Oberzan zum Ausgangspunkt für seine Performance „Tell me love is real“ genommen. Am vergangenen Freitag war sie im Rahmen des Festivals „The Power of Powerlessness“ in Berlin zu sehen. Mit dem Festival widmet sich das Hebbel am Ufer (HAU) noch bis zum 25. Juni verschiedenen aktuellen Diskursen zum Thema Macht und Ohnmacht – ausgehend von der These, dass sich die Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird, grundlegend verändert hat, da unser heutiger Alltag von Kontrollsystemen durchzogen sei.
Schon in der von Oberzan skizzierten Situation aber wird klar, welch unterschiedliche Konnotationen der Macht- und der Ohnmachtbegriff haben können. Ist die Macht über den eigenen Körper die letzte, die uns bleibt? Ist der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, ein Akt der Macht oder der Ohnmacht – oder beides? Welche Macht haben Substanzen? Was bedeutet das für den Begriff von Macht?
Oberzan, ein straßenköterblonder und akkurat gescheitelter Typ, 41 Jahre alt, trägt an diesem Abend viel auf den Knien vor. Der Raum im HAU 3 ist spartanisch eingerichtet – nur eine Leinwand, ein quaderartiges Podest und eine Gitarre, auf der Oberzan zwischenzeitlich spielt.
Ein niederkniender Trip durch die Populärkultur der USA
Zwischendurch spricht über seine Faszination für Martial Arts, über Schockbehandlung bei Depressionen, die er selbst auch hat, über Paul Simon und Whitney Houston und Jean Claude Van Damme. Ein Trip durch die US-amerikanische Populärkultur, niederkniend vorgetragen. Eine Geste der Unterwerfung, das Sinnbild für Unterlegenheit und Machtlosigkeit.
Oberzan beschäftigt sich in Videos – zu Beginn zeigt er Aufnahmen, in denen er selbst Houston im Hotelzimmer spielt –, Liedermacher-Songs und in essayartigen Vorträgen mit der Macht des Unbewussten, mit der Macht der Gedanken, auch mit der Macht des Sozialen.
Depressive Künstler, Popgeschichte, ein etwas unmotiviert wirkender Link zum Thema Liebe – es fehlte der rote Faden. Vielleicht hätte auch ein bisschen mehr Theoretisierung Oberzans eineinhalbstündiger Performance nicht geschadet.
Man hätte zum Beispiel den Machtbegriff Michel Foucaults zugrunde legen können, des wohl bedeutendsten Machttheoretikers der vergangenen Dekaden. Er hat sich einer Lesart von Macht widersetzt, nach der sie zwangsläufig mit Repression einhergehe. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“, schrieb er, und wo sie einschränke und begrenze, da erweitere und erleichtere sie auch. Sich etwa auf solche Weise der Macht der eigenen Psyche – und den Widerständen – zu nähern, wäre spannend gewesen.
Berichte von eigenen Ohnmachtserfahrungen
Um Macht und Widerstand ging es dagegen bei dem Projekt „Inventar der Ohnmacht“ von Edit Kaldors, das sie an drei Abenden am vergangenen Wochenende initiierte – aber eher um Macht und Widerstand in der Praxis.
Die Versuchsanordnung des interaktiven Projekts: Eingeladene Personen oder Leute aus dem Publikum berichten von ihren eigenen Ohnmachtserfahrungen. Diese werden gesammelt, mitgeschrieben und in Schlagworten oder Kurzbeschreibungen an die Wand projiziert (“im Stasi-Knast sitzen“, „eine Fehlgeburt haben“, „in einer Psychose gefangen sein“). Man kann die Berichte miteinander verknüpfen lassen oder Hashtags wie bei Twitter setzen. Bei den Performances entstand so eine Art Sternbild der Ohnmachtserfahrungen.
Zuschauer berichteten von Trennungen, von abgelehnten Asylanträgen, von Ängsten, Krankheiten, Missbrauchserfahrungen. Diverse Erfahrungen der Machtlosigkeit standen so nebeneinander. Dieses hierarchiefreie Nebeneinander der Oral History – oder Oral Present – stellte sicher auch ein Problem der Abende dar: Manchmal hätte man gern viel mehr über die Geschichten gewusst als eine verkürzte Darstellung in zwei, drei Minuten. Hier aber konnte man Foucaults weite Lesart von Macht durchaus zugrunde legen – Macht wäre demnach nicht per se schlecht, Macht und Ohnmacht fluktuierende Phänomene in einem Feld, das immer neu geschrieben wird.
Weiter geschrieben wird auch die Geschichte des Festivals „The Power of Powerlessness“: In Ivo Dimchevs Performance „ICure“ (11. bis 14. Juni) wird das Erleben der eigenen Schwäche das Grundmotiv sein, die niederländische Künstlerin Emke Idema wird in „Stranger“ erste Eindrücke beim gegenseitigen Kennenlernen thematisieren. Durchgehend ist die vom musiktheater bruit! Erarbeitete Installation „Noise is Power – Krach ist Macht!“ im WAU zu sehen und zu hören.
Die größte Herausforderung wird nach den Eindrücken des ersten Wochenendes sein, die Beliebigkeit zu umschiffen und den Phänomenen nicht nur Namen zu geben, sondern zu vermitteln, wofür sie im komplizierten Geflecht von Macht und Ohnmacht stehen.
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