Festival „Lehnmusik“ in Augustusburg: Die Tochter der Luft

Echos aus Maschinen und Geräusche aus der Erde. Das Festival „Lehnmusik“ im sächsischen Augustusburg widmet sich der experimentellen Musik.

Die Künstlerin Tomoko Sauvage im Schneidersitz, um sie herum mit Wasser gefüllte Schalen, darin Mikrofone

Tomoko Sauvage am Sonntag beim Festival „Lehnmusik“ in Augustusburg Foto: Marcel Schlegel

Manche Leute kommen ins Erzgebirge, um dem Echo der Welt zu entgehen. Jan Jelinek und Frank Bretschneider bringen das Echo der Welt mit und werfen es fraktal in den Raum. Wenn Reflexionen einer Schallwelle so verzögert sind, dass sie als separates Hörereignis wahrnehmbar sind, entsteht Echo.

Echo klingt flüchtig und erhaben zugleich, das macht es auch so schwer erfassbar und gibt seit jeher Anlass zu wilden Spekulationen, wie Marin Mersenne im 17. Jahrhundert in seiner Schrift „Harmonie Universelle“ erklärt hatte. Der französische Mathematiker und Mönch des Paulaner Ordens bezeichnete Echo wahlweise als „Bild der Stimme“, „Tochter der Luft“, oder „fliehende Nymphe“.

Wenn Jelinek und Bretschneider beim Festival „Lehnmusik“ in dem kleinen Städtchen Augustusburg im Erzgebirge an den Knöpfen und Effekten ihrer modularen Workstations schrauben, drücken und drehen, dann laufen jene vagabundierenden Echos von nah und fern wie in einem Schaltraum zusammen, materialisieren sich zu Klang und verschwinden wieder im Orkus. Zwei Ohren reichen eigentlich nicht aus, um diese Soundströme, Stimmsamples und Echoschlaufen zu erfassen.

Von allen Seiten zuckt es auf die Hö­re­r:In­nen ein, eine intensive, fast körperliche Erfahrung. Wie in einem Stuhlkreis sitzt das Publikum rund um die beiden Berliner Elektronikproduzenten, übt sich in tiefer Konzentration. Der Sound der beiden Berliner Produzenten klingt supercrisp und folgt einer raffinierten Dramaturgie, die die beiden Künstler in stillem Kopfnicken vollführen.

Demokratie im kleinen Maßstab

Festival Lehnmusik, noch bis zum 14. Oktober.

https://www.aufweiterflur.org/lehnmusik

Der Gasthof Lehngericht beherbergte einst ein FDGB-Ferienheim. Dessen alter Festspielsaal mit großen, von der Decke hängenden Lüstern aus Metall und Kristallglas ist nun Ort für experimentelle (elektronische) Musik. Es kommen Einheimische und Menschen von weiter her, aus Chemnitz, Dresden, Leipzig und Hamburg.

Die Wände sind holzverschalt, der knarzende Dielenboden tut sein Übriges fürs Ambiente. Alles Knistern, die Stimmfetzen und Hallfahnen von Jelinek und Bretschneider werden von der Innenarchitektur aufgenommen und zurückgeworfen.

So viel ist sonst nicht los in Augustusburg. „Ich bin froh, dass mal über was Anderes berichtet wird als immer nur über die ‚freien Sachsen‘“, sagt mir ein Zuschauer. Seit 2019 kümmert sich der Kulturverein „auf weiter flur“ um den Ort, zeigt Filme, organisiert Theaterstücke und richtet regelmäßig eine Discoparty aus. Eine junge Frau, die aus Zwickau hergezogen ist und beim Kulturverein mitwirkt, sagt, hier werde Demokratie im kleinen Maßstab vorgelebt.

Sensoren in der Erde verbuddelt

Für „Lehnmusik“ ist nicht nur das Gebäude selbst ein Handlungsort, auch der Garten am Haus ist in Beschlag genommen. In einem winzigen Schreberhäuschen ist eine „Akustemologische Station für Bodenklänge“ als künstlerische Forschungsstation installiert: Zur Untersuchung des Bodens hat der Weimarer Anthropologe Daniel Wolter im Garten Sensoren in der Erde verbuddelt, die Erschütterungen und Geräusche aufzeichnen. Diese werden von Lautsprechern im Gartenhäuschen wiedergegeben: Dumpfes Bollern, maushaftes Rascheln, die Erde lebt, nicht nur, wenn jemand gerade auf dem Kiesweg vorbeigeht.

Be­su­che­r:In­nen sind eingeladen, ihre Höreindrücke in Fragebögen niederzuschreiben, die Wolter wissenschaftlich auswertet. Auch die Werkstatt im Lehngericht soll beim Veranstaltungszyklus der „Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025“ zu einem der „Makerspaces“ (Werkstätten) werden. An solchen Orten wird an den Erfindungsreichtum und das Improvisationsgeschick in der DDR appelliert, aus Nichts und Mangelwirtschaft Ersatzteile herzustellen. Momentan wird noch Inventar aus der Gaststätte repariert.

Uran für die Sowjetunion

Die Kleinstadt Augustusburg wirkt sehr schmuck. Fast alle Altbauten – ob Fachwerkhäuschen oder Gründerzeitvillen – sind aufgehübscht. Die Spuren der Vergangenheit sind weitgehend getilgt, wirkt es vielleicht deshalb ein bisschen geisterhaft? Frank Bretschneider, der knapp 60 Kilometer entfernt 1956 im Erzgebirge geboren wurde, erkennt an einem leerstehenden Friseursalon das verblichene Schild „PGH“ (Produktionsgenossenschaft des Handwerks).

Bretschneiders Vater war bei Wismut im Uranabbau beschäftigt, was der Sohn erst sehr viel später erfahren hat. Zu DDR-Zeiten wurde damit exklusiv die Atommacht Sowjetunion beliefert, die Arbeit im Stollen war der Geheimhaltung unterworfen. Aufgewachsen ist Bretschneider in Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz bis 1989 hieß. Dort gründete er 1986 zusammen mit dem Künstler Jan Kummer und anderen die Band A.G. Geige. Früh setzte er auf elektronische Musikproduktion, besaß als einer der ersten einen Korgsynthesizer.

In Augustusburg trifft Bretschneider erstmals seit langer Zeit auf die Vergangenheit, alte Freunde sind im Publikum, was ihn bewegt und erfreut. Er und der aus Darmstadt stammende Jan Jelinek haben sich in Berlin als Nachbarn kennengelernt. Jelinek veröffentlichte auf seinem Label Faitiche Soloalben von Bretschneider. Als Duo „Beispiel: Muster“ sind sie zusammen in Erscheinung getreten und haben in einem Studio Musik eingespielt, das nach dem Spion „G. Guillaume“ benannt ist. Der wurde von der Stasi im Kanzleramt von Willy Brandt installiert.

Ein Ort mit NS-Geschichte

Auch Festival-Kurator Felix Forsbach hat sich mit der Vergangenheit in Augustusburg auseinandergesetzt und die NS-Geschichte erforscht, seit er im April 2021 ins Erzgebirge gekommen ist. Die namensgebende Burg, im 16. Jahrhundert als Jagd- und Lustschloss des sächsischen Kurfürsten August I. errichtet, wurde im Sommer 1933 zu einem „wilden“ KZ umfunktioniert, in das vor allem politische Häftlinge (die im Bergbau des Erzgebirges tätig waren) gesteckt wurden. Ab 1935 war hier zudem ein Gauführerschule, geleitet vom sächsischen NS-Funktionär Fritz Rößler, der nach 1945 zunächst der Entnazifizierung entging, als Lehrer unterrichtete und unter falschen Namen 1949 sogar in den Bundestag als Abgeordneter einzog, bis er 1952 aufflog.

Im April 1945 kam ein Todesmarsch von KZ-Häftlingen durch Augustusburg, mehrere Menschen sind damals an den Folgen von Erschöpfung und Misshandlung gestorben. Forsbach hat dazu Interviews mit Zeit­zeu­g:­In­nen geführt, die die halbverhungerten Häftlinge auf ihrem Weg nach Buchenwald gesehen hatten. Dokumentiert hat er das in den „Augustusburger Protokollen“.

Die Augustusburg wird auch „Krone des Erzgebirges“ genannt, als Wahrzeichen thront sie über dem Ort und beherbergt zwei Museen für Kutschen und Motorräder. Über die NS-Geschichte ist dort noch nichts zu finden. Der Gasthof zum „Lehngericht“ steht unterhalb der Festung, aber die Schwingungen der Vergangenheit erfassen das Gebäude bestimmt.

Eine Magna Charta von Tropfgeräuschen

Viele, auch junge Menschen kommen, um die experimentelle Elektronik der japanischen Künstlerin Tomoko Sauvage zu hören. Die in Paris lebende Frau arbeitet mit Kontaktmikrofonen in Wasserschalen. Einzelne Tropfen, die sie von ihren Händen gleiten lässt und Wasserschlucke, die sie aus Bechern in die Schalen gießt, werden so von den Mikrofonen aufgezeichnet, mit einem Harmonizer-Effektgerät zu langen Hall- und Echofahnen konvertiert, bis eine Magna Charta von Fließ- und Tropfgeräuschen entsteht. Das meditative Perlen und Fließen ist anregend, aber nie zu esoterisch.

Besonders herzlicher Applaus wird der bayerischen Musikerin Limpe Fuchs zuteil. Die 82-Jährige hat einen völlig eigenen, naturnahen Zugang zur experimentellen und frei-improvisierten Musik. Sie bringt Klangsteine mit, die sie selbst im italienisch-schweizerischen Bernina-Gebirge gesammelt hat und legt sie wie Klangstäbe auf das Gerippe eines Vibraphons, um diese mit Gummihämmern zu spielen.

Dazu hat Fuchs eine Kabeltrommel mitgebracht, an deren Kabelenden sie zieht, bis eine Sinfonie des Quietschens entsteht. Große Trommeln hat sie an Befestigungsstangen in die Höhe gehängt und versetzt diese Metallstäbe in Schwingung. Dazu singt Limpe Fuchs gelegentlich in einer Fantasiesprache, zutiefst friedfertig, weltgewandt, die sicher noch eine Weile im Erzgebirge nachklingt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.