Femizide im mexikanischen Ciudad Juárez: Gegen den Frauenhass
Wenn Frauen getötet werden, ist das Alltag. Jane Terrazas will das nicht hinnehmen. Ihr Kollektiv sendet Botschaften gegen Frauenhass in die Welt.
E in süßer Duft nach Blüten und Gewürzen schlägt der Besucherin entgegen, wenn sie die hellen Räumlichkeiten von „Ni en more“ betritt, was ins Deutsche übersetzt „Nicht eine mehr“ bedeutet. Sojamilch mit Avocado und Eukalyptus, Tannenzapfen und Safran, Indigo und Rosenblätter werden in großen blauen Emailletöpfen eingekocht. An Kleiderstangen hängen Blusen und Tuniken aus Baumwolle, Leinen und Seide in rosé-, senf- und beigfarbenen Tönen, zart gemustert mit Blütenblättern.
Jane Terrazas, Gründungsmitglied des Frauenkollektivs, ist mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez groß geworden, einer unwirtlichen mexikanischen Industriemetropole zwischen Wüste und Grenzzaun zu den USA mit fast 1,7 Millionen Einwohnern. Zum Alltag gehören dort die Suchplakate für junge Mädchen an Bushaltestellen und Laternenpfählen und die schwarzen Kreuze auf rosa Grund, die an den Straßenecken Gerechtigkeit fordern. Frauen werden umgebracht, weil sie Frauen sind.
In Ciudad Juárez ergatterten junge Migrantinnen aus dem Süden des Landes die begehrten Jobs in den Montagefabriken in der unmittelbaren Nähe zu den USA. Ihre Schutzlosigkeit in den Armenvierteln und auf dem nächtlichen Nachhauseweg sowie eine Allianz aus Kartellangehörigen und Unternehmern, die sich alles leisten konnten – moralisch wie finanziell –, gelten als Nährboden für die alltägliche Jagd auf Frauen.
„Eine Normalität, die keine sein sollte und doch als solche hingenommen wurde“, sagt die unter dem Namen „Mustang Jane“ arbeitende Künstlerin. Seit 29 Jahren herrscht Straflosigkeit für die große Mehrheit der bislang schätzungsweise 2.200 Femizide in der Stadt.
Alles begann mit einem Plakat aus Norwegen
Als eine Freundin ihr von einer Europareise das Plakat einer norwegischen Künstlerin vorbeibringt, die interaktive Kunstprojekte über verschwundene Frauen macht, denkt sich Jane Terrazas, deren rotbraune Locken sich zu einer wilden Mähne kräuseln: „Eine Verbündete.“ Ein paar Jahre später, als sie als Kuratorin einer Kunstgalerie arbeitet, lädt sie Lise Bjørne Linnert nach Ciudad Juárez ein. „Für uns beide stand fest, wir müssen ein gemeinsames Projekt machen und weitere Frauen einbinden.“
Eine norwegische Modedesignerin gibt ihnen das Startguthaben – es sollte nur „etwas mit Mode“ sein. Jane Terrazas lacht und breitet die Arme aus. „Und so entstand ‚Ni en More‘ – Biodesignerkleidung, mit der wir versuchen, auf Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen national und international aufmerksam zu machen.“ Und dies mit Erfolg: Große Modezeitschriften wie die Vogue berichten über das kleine Modekollektiv an einer Schnellstraße zwischen Wohnvierteln und Supermärkten – und über sein Anliegen.
Schon Anfang der 1990er Jahre hatten Akademikerinnen in Ciudad Juárez den Begriff „Femizid“ geprägt, um der neuen Art von Verbrechen einen Namen zu geben. „Doch Morde sind nur die Spitze des Eisbergs aus Frauenhass und gewaltbereitem Machismus“, sagt Terrazas. Diese Gewalt sei allgegenwärtig. „Frauen gehen aus dem Haus, wo sie Gewalt erfahren haben, und erleben sie erneut auf der Straße, im Bus, in der Fabrik.“ Jede Frau im mestizisch-indigenen Team von „Ni en more“ habe ihre eigene Geschichte, erzählt Jane Terrazas. Eine Mitarbeiterin musste die Stadt verlassen, weil ihr ehemaliger Partner sie mit dem Tode bedrohte. Bei einer anderen stand die Staatsanwaltschaft vor der Tür. Die 20-jährige sollte ihren Ex-Mann umgebracht haben, der sie vormals zur Prostitution gezwungen hatte. Eine weitere sucht zurzeit in der Werkstatt Unterschlupf vor ihrem Mann, der sie schlägt.
Jane Terrazas vom Kollektiv „Nicht eine mehr“
Diese Werkstatt ist ein freundlicher Ort mit Holzfußboden und Topfpflanzen. Schnittmuster hängen an der Wand, im hinteren Raum stehen Industrienähmaschinen, Stoffballen und Bügelbretter. An den Wänden hängen Plakate aus aller Welt, von Kunstausstellungen und Protestbewegungen. Im Monat produziert das Kollektiv rund 40 Einzelstücke mit laufender Nummer. Die Verkaufszahlen sind so gering, weil die Produktion kostspielig ist. „Wir wollen schließlich faire Einkommensmöglichkeiten schaffen“, sagt Terrazas. Dank der Grenznähe besteht die Möglichkeit, die Waren in Museumsshops im texanischen El Paso zu verkaufen. Neben dem Verkauf in einem weiteren Geschäft in der mexikanischen Hauptstadt läuft der Versand per Internet. Mit jedem Designerstück geht auch eine Botschaft gegen Gewalt gegen Frauen in die Welt hinaus: Ein Etikett in Postkartengröße erzählt von Hassmorden und Ausbeutung durch Arbeit in Ciudad Juárez.
Doch Jane Terrazas ist realistisch: „Wir werden die dramatische Situation von Frauen in der Stadt nicht ändern können“, glaubt sie. „Aber wir wollen ein kleines Modell dafür schaffen, wie es sein könnte, wenn Frauen zusammenarbeiten und ihr eigenes Geld verdienen.“ Eine Lebensrealität, die Solidarität untereinander und eine Möglichkeit zur Veränderung der persönlichen Verhältnisse schafft. Zehn Frauen bietet „Ni en more“ diese finanzielle Unabhängigkeit. „Nur eine Frau, die ökonomisch unabhängig ist, kann sich von einem gewalttätigen Partner trennen. Für jede andere steht das schlichtweg nicht zur Debatte“, sagt Terrazas.
Während die Wüstensonne im Zenit steht, macht sich Lydia Graco auf ins Zentrum der Stadt. Vorbei an brachliegenden Grundstücken, zerfallenen Häusern, düsteren Kneipen und kleinen Geschäften ist die 30-Jährige unterwegs zu einem Ort, der vor einem Jahr eine traurige Bedeutung für sie und viele andere Frauen erhalten hat. Ein paar Straßenzüge von der Fußgängerzone entfernt hängt ein rosa Fahrrad hoch an einem Laternenpfosten. Daneben ragt ein kahler Baum in den tiefblauen Himmel. Im Januar 2020 wurde hier eine Mitstreiterin von Lydia Graco ermordet; regelrecht hingerichtet durch einen Pistolenschuss in den Kopf. Isabel Cabanillas war mit dem Rad auf dem Weg nach Hause. Eine junge Künstlerin, Aktivistin und Mutter mit manchmal blau, manchmal lila gefärbtem Pagenkopf.
Der Mord an Isabel Cabanillas
Kunst- und Politkollektive in Ciudad Juárez waren tief betroffen von dem Femizid in den eigenen Kreisen und setzten Isabel mit dem aufgehängten Fahrrad ein Denkmal. Die Nachricht von dem Mord ging um die Welt. Doch über ein Jahr später gibt es immer noch keine Aufklärung. Lydia Graco legt heute Blumen für die Freundin nieder. „Es war ein schwerer Schlag, dass sie gerade eine von uns umgebracht haben“, erklärt sie. „Wir sind doch nicht viele, die in dieser Stadt gegen Frauenmorde kämpfen.“
Am Todestag von Isabel hat Graco gemeinsam mit anderen Aktivistinnen 2.000 kleine rosa Kreuze an der vor ein paar Jahren geschaffenen Sonderstaatsanwaltschaft für Frauen in Ciudad Juárez angebracht. Es ist ein schnörkelloser Bürobau hinter den Eisenbahnschienen, die zunächst ins Zentrum und dann in die USA führen, vorbei an der schroffen rötlichen Bergkette der Sierra de Juárez. Graco kann sich nicht erinnern, wie viele der Kreuze sie selbst gefertigt hat, schnell zusammengebastelt aus zusammengeklebten Eisstielen, mit rosa Wandfarbe überpinselt. In Ciudad Juárez entstehen die Mahnmale in Eigenarbeit.
Ein breites gesellschaftliches Bewusstsein fehle in Ciudad Juárez, so die Aktivistin mit den klaren hellgrünen Augen. Viel zu oft seien es die Opfer, die diffamiert würden. Sie wären in den Drogenhandel involviert gewesen und deshalb umgebracht worden, heißt es dann, gerade wenn sie in den Schlafstädten im Südosten der Stadt ermordet wurden.
Die Mehrheit der dort lebenden Familien besteht aus Zugezogenen, gearbeitet wird in langen Schichten in den Fabriken. Winzige Häuser stehen in endlosen Reihen, kaum ein Baum spendet Schatten. Das Fehlen von öffentlichem Transport, Straßenbeleuchtung und städtischen Einrichtungen sowie die Präsenz von Drogenkartellen und ein hoher Konsum von Crystal Meth tragen zur allgemeinen Unsicherheit bei.
In den Zeiten des sogenannten Drogenkrieges ab dem Jahr 2008 schoss die Zahl der Frauenmorde in die Höhe. Doch obwohl die Zahl der Morde insgesamt in der Stadt seit 2013 wieder abnahm, stieg die der Femizide noch weiter an. Für die organisierte Kriminalität gelten Frauen und Mädchen als Wegwerfware. Die Kartelle machen sie zu abhängigen Konsumentinnen und Dealerinnen. Andere werden in die Prostitution und den Frauenhandel verschleppt.
Doch Femizide werden in Ciudad Juárez schon lange nicht mehr nur von Kartellangehörigen begangen. „Vielfach sind es Partner und Ex-Partner, die Gewalt ausüben. Diese gipfelt irgendwann in einem Mord“, sagt Lydia Graco. So wie im April 2019, als die 18-jährige Studentin Dana Lozano direkt hinter dem Universitätscampus von ihrem ehemaligen Freund getötet wurde „Zum ersten Mal seit langen Jahren kam es zu einem gesellschaftlichem Aufbegehren“, sagt Graco. Die Studierenden organisierten sich, traten in den Streik und stellten über Wochen ein eigenes Studienprogramm auf die Beine, mit Kursen über toxische Beziehungen und Selbstverteidigungsangeboten.
Auch Lydia Graco politisierte sich an der Universität der Stadt. Gemeinsam mit anderen Studentinnen hat sie vor sechs Jahren ein feministisches Kollektiv gegründet. „Hijas de su Maquilera Madre“ nennen sie sich, „Töchter von Maquila-Müttern“, wobei Maquila die Montagefabriken bezeichnet, in denen im Norden Mexikos für den US-amerikanischen Markt geschuftet wird. Was im Spanischen wie eine Beschimpfung anmutet, deuten die Frauen positiv für sich um. „Wir sind die erste Generation mit Universitätstiteln, während unsere Mütter alle in den Montagefabriken hier an der Grenze gearbeitet haben“, sagt Lydia Graco. Das sei etwas, wofür sie sich nicht schäme, sondern was sie stolz mache.
Aktionen und Demonstrationen gegen Femizide
Das Kollektiv organisiert Aktionen und Demonstrationen gegen Femizide in der Stadt. Doch manchmal hat Lydia Graco die fast täglichen Schreckensmeldungen satt. Dann fährt sie mit ihrer Schwester in die Sanddünen von Samalayuca vor den Toren der Stadt. Das ist ihr persönlicher Kraftort. Nur der Wind ist dort zu hören. Hasen mit schwarzen Ohren kreuzen die einsamen Feldwege, glänzende Skarabäuskäfer erklimmen die vom Wind gewellten Dünen, und mit etwas Glück sind die Spuren eines Pumas zu finden, der im Morgengrauen unterwegs war.
Während die Sanddünen ein beliebter Ausflugsort sind, wird das nahe Juáreztal direkt an dem rostbraunen Grenzzaun zu den Vereinigten Staaten kaum besucht. Dort soll es noch immer Massengräber aus dem sogenannten Drogenkrieg geben. Im ausgetrockneten Flussbett des Navajobachs fanden Familienangehörige und Aktivistinnen vor Jahren auch die Überreste von sechzehn verschwundenen Mädchen. Ein bahnbrechendes Gerichtsverfahren gegen Angehörige der dem Juárezkartell zugeordneten Bande „Los Aztecas“ folgte, das einen Frauenhandelsring bis ins örtliche Gefängnis aufdeckte. Meistens aber nimmt die Gerechtigkeit nicht ihren Lauf in einer Stadt, die von der Zersetzung der öffentlichen Institutionen durch die Drogenkartelle geprägt ist.
Auch Lydia Graco wollte persönlich zur Aufklärung der Frauenmorde beitragen und ihren Master in Forensischer Anthropologie machen. Doch als sie ein Praktikum im städtischen Leichenschauhaus absolvieren sollte, dort, wo die Körper und Knochenfunde ermordeter Frauen eingeliefert werden, wurden ihr bedeutet, dass besser sein zu lassen. „Als ich Morddrohungen aufgrund meines Engagements erhielt, habe ich das Studium abgebrochen. Wem nützt es, wenn ich tot bin?“ Graco seufzt. Sie glaubt nicht, dass sie noch einmal ein Ciudad Juárez ohne Frauenmorde erleben wird. „Zu tief ist Frauenhass gesellschaftlich und institutionell verankert.“ Ein grundlegender Wandel des Geschlechterverhältnisses sei notwendig. Doch sich mit dem Status quo abfinden kommt für sie nicht infrage.
Eine Frau, die den Gang durch die Institutionen in der Grenzmetropole erfolgreicher gegangen ist, heißt Verónica Corchado. Die 50-Jährige hörte von klein auf in der Wohnküche ihres Elternhauses, zu welchen Gewalttaten gegen ihre Lebenspartnerinnen Männer fähig sind – psychisch, verbal und physisch. „Immer wenn Nachbarinnen zu meiner Mutter, einer Vertrauensperson des Viertels, kamen, forderte sie mich auf, für die Dauer des Gesprächs mit den Kindern der Frauen zu spielen.“ Über Domino und Dame lauschte die heranwachsende Vero dann den Berichten der Betroffenen und den Ratschlägen ihrer Mutter.
Später, als Verónica Corchado in der Maquila, den Montagefabriken, arbeitet, bekommt sie mit, wie die ersten Arbeiterinnen aus ihrem Viertel ermordet werden. Zu dieser Zeit kam es zu systematischen Entführungen, Vergewaltigungen und Morden an Arbeiterinnen. Am Rande der Stadt fand man die Frauenleichen, verschwunden auf dem Weg nach Hause, unabhängig voneinander entführt, aber verscharrt in einem gemeinsamen Grab. Im Jahr 2009 wurde der mexikanische Staat vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof schuldig gesprochen, eine Aufklärung aktiv vereitelt zu haben.
Jahrelang war Verónica Corchado als Sozialarbeiterin in zivilgesellschaftlichen Projekten und Initiativen aktiv, um die Mütter verschwundener Frauen und Mädchen zu unterstützen. „Doch in diesen Jahrzehnten wurde mir auch klar: So organisiert eine Zivilgesellschaft auch ist, ihr Engagement hat Grenzen.“ So entschied sich die stadtbekannte Feministin vor fünf Jahren zum Schritt in die Politik. Als erstmals ein parteiunabhängiger Bürgermeister in die Stadtregierung einzieht, unterbreitet sie ihm ein Millionenprojekt gegen Frauenmorde. Als Direktorin des städtischen Fraueninstituts setzt sie heute mit dem „Sicherheitskorridor für Frauen“ ein infrastrukturelles Pilotprojekt in Ciudad Juárez um.
Die Stadt für Frauen sicherer machen
„Das Projekt greift das Recht auf eine sichere Stadt durch eine integrale Gewaltprävention im öffentlichen Raum auf. Und das an einem Ort, der durch die Entführungen von Frauen und Mädchen traurige Berühmtheit erlangt hat, im Zentrum der Stadt“, sagt Corchado. Rund um die Kathedrale und die weiß getünchte Missionskirche wimmelt es auf den Straßen von flanierenden Passanten, Verkaufsständen und Essenkarren. Dahinter verstecken sich kleine Geschäfte und Eingänge zu weit ausladenden Markthallen. Von den typischen Burritos bis gerösteten Grashüpfern nach prähispanischem Rezept ist hier alles zu haben.
„Es sind die ersten Baumaßnahmen in Ciudad Juárez und vermutlich auf der ganzen Welt, die mit einer weiblichen Perspektive auf die Stadt geplant sind und die Bedürfnisse von Frauen in den Mittelpunkt stellen“, erzählt Verónica Corchado. Es würden Polizeiposten installiert, die ausschließlich mit Polizistinnen besetzt sind. Daneben entstehen zahlreiche Notrufsäulen mit Alarmknöpfen und frei zugänglichem WLAN. Kameras werden aufgestellt und öffentliche Toiletten gebaut. „Vorher gab es nur sehr schlecht einsehbare Anlagen in Hinterhäusern und auf der Rückseite von Märkten.“ Unterstützt wird das Sicherheitskonzept durche eine App, die im Notfall auf ein Schütteln des Handys reagiert.
„Wir wollen keine Frauenmorde mehr in Ciudad Juárez“, seufzt Corchado. Die Institutionalisierung dieses Anliegens gewähre eine gewisse Kontinuität, die Perspektive, Erfahrungen und Bedürfnisse von Frauen zu sammeln und diese einzubeziehen. „Aber auf dieser präventiven Ebene lassen sich keine schnellen Resultate ablesen. Leider blickt die Stadt zwischen Kartellpräsenz, Militarisierung und Ausbeutung in den Maquilafabriken auf eine lange Geschichte der Gewalt zurück.“
Über Jahrzehnte habe dies in Familien, Gesellschaft, Verwaltung und Politik große Schäden verursacht. „Frauenhass und Gewalt gegen Frauen werden nicht über Nacht verschwinden. Aber es muss endlich etwas geschehen.“
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