Fehler im Genom: Das Rätsel des Erbguts
Das menschliche Genom ist entschlüsselt. Damit dürften genetische Erkrankungen leicht zu erkennen sein. Tatsächlich verstehen wir nur einen Teil.
Viele Erkrankungen entstehen dadurch, dass Fehler im Genom vererbt werden oder neu entstehen. Viele dieser sogenannten Mutationen sind bekannt: So weiß man mittlerweile genau, dass bestimmte genomische Wiederholungen auf dem vierten Chromosom für die Huntington-Krankheit verantwortlich sind. Dabei sterben Nervenzellen im Gehirn ab, die für motorische, psychische und kognitive Fähigkeiten wichtig sind. Betroffene leiden häufig unter unwillkürlich zuckenden Bewegungen, die am ganzen Körper auftreten können.
Man weiß unter anderem so viel über Mutationen wie die Huntington-Krankheit, weil sie in einem gut untersuchten Teil des Erbguts stattfinden. Dieser codierende Bereich macht aber nur rund 1,5 Prozent des menschlichen Genoms aus. Der Rest wurde lange Zeit als „Abfall“-DNA bezeichnet, weil er beim Bau der Proteine schlicht weggeschnitten wird. Mittlerweile ist jedoch klar, dass auch dort, im sogenannten dunklen Genom, wichtige Prozesse stattfinden.
So legt eine neue Studie nahe, dass bestimmte Entwicklungsstörungen durch Veränderungen im RNU4-2-Gen zustande kommen. Die Forschenden verglichen seltene Mutationen in Genomdatensätzen von rund 5.500 Menschen mit Intelligenzminderung mit den Sequenzen von etwa 46.000 Kontrollpersonen. RNU4-2 ist ein Gen, das keinen Bauplan für ein Eiweiß enthält, sondern im dunklen Genom liegt.
Zunehmende Verfügbarkeit von Genom-Daten
Das Genom besteht aus einer Aneinanderreihung der Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. In den codierenden Bereichen bestimmt die Reihenfolge der Basen, aus welchen Bauteilen Proteine zusammengesetzt werden. Ist in solchen Sequenzen ein Fehler, kommen am Ende nicht die richtigen Eiweiße heraus und Krankheiten entstehen – so etwa beim Huntingtin-Protein, das in seiner veränderten Form giftig ist und Nervenzellen abtötet.
„Viel wissen wir bisher nicht über den großen Rest“, sagt Ingo Kurth, Direktor des Instituts für Humangenetik und Genommedizin an der Uniklinik der Technischen Universität Aachen. „Manche Abschnitte werden lediglich in RNAs übersetzt, also einem Vorschritt zum Protein, die dann Funktionen in der Zelle regulieren, ähnlich wie ein Schalter.“
Andere Elemente seien Steuereinheiten, die etwa bestimmen, ob andere Gene an- oder abgeschaltet werden. Dazu kommen DNA-Teile, die von einer Stelle im Genom zu einer anderen gelangen können und deshalb auch „springende Elemente“ genannt werden. Selbst virusähnliche Elemente sind zwischen den codierenden Sequenzen eingebaut und können zu Beschwerden führen, wenn sie aktiviert werden. „Das Problem ist, dass wir viele der Elemente noch gar nicht als solche erkennen“, so Kurth. „Wir können also erst recht nicht verstehen, was eine Veränderung in diesen Bereichen bedeutet.“
Das dunkle Genom wird erforscht
Erst in den letzten Jahren hat die Forschung im dunklen Genom an Bedeutung gewonnen. Erschwert wird sie unter anderem dadurch, dass oft unklar ist, wo ein Element beginnt und endet. „Das ist noch wie eine Sprache, die wir nicht verstehen und für die es keine Muttersprachler gibt“, sagt Kurth. „Wir sind aufgrund der zunehmenden Verfügbarkeit von Genomdaten und neuen bioinformatischen Möglichkeiten aber bereits gut vorangekommen, uns diese Sprache beizubringen.“
Hilfreich seien unter anderem Vergleiche der Genome verschiedener Tierarten wie Hunden, Katzen, Mäusen oder gar Fischen. Denn manche Abschnitte haben sich im Laufe der Evolution nicht verändert – was darauf hindeutet, dass sie eine wichtige Funktion haben.
Mehr über den unverstandenen Teil des Genoms herauszufinden, kann für die Diagnose von Erkrankungen bedeutsam sein. Oft sei eine klare Einordnung eine große Hilfe für betroffene Familien, sagt der Humangenetiker. Zudem ist es gerade bei Entwicklungsstörungen eine wichtige Information, etwa wenn die Eltern noch weitere Kinder bekommen möchten. Kann nun eine RNU4-2-Mutation als Ursache der Entwicklungsstörung diagnostiziert werden, ist es unwahrscheinlich, dass es bei einer weiteren Schwangerschaft zur gleichen Erkrankung kommt. Denn die Mutation entsteht meist spontan, bei den Eltern ist das Gen intakt.
Eine Black Box ist das dunkle Genom indes nicht. Beim RNU4-2-Gen etwa ist bereits bekannt, dass es für das Umschreiben unreifer RNAs in Proteine notwendig ist. Was genau die Mutation für die Zellfunktion bedeutet, muss allerdings noch erforscht werden. Und von dort ist es ein weiter Weg zu einer Therapie. „Wie lange es dauern wird, aus solchen Erkenntnissen konkrete Behandlungen abzuleiten, weiß niemand“, sagt der Humangenetiker. Denn das hänge immer von der jeweiligen Erkrankung ab. „Ich glaube aber, die Geschwindigkeit in der Therapiefindung nimmt rasant zu, und es gibt genau jetzt außerordentlich vielversprechende Ansätze.“ Gemeint sind Gentherapien mit der Genschere Crispr/Cas, mit denen solche Erkrankungen in Zukunft möglicherweise behandelt werden können.
Von der Studie zur Zulassung
In jedem Fall müssen neue Therapiemethoden einen aufwendigen und langwierigen Prozess durchlaufen: von präklinischen Studien mit Tiermodellen oder menschlichen Zellen über mehrere Stufen von klinischen Studien bis zur Zulassung durch die entsprechenden Behörden. „So etwas kann viele Jahre dauern, aber gerade im Bereich der neuen Therapien müssen wir innovative und schnelle Wege bis zur Zulassung beschreiten“, sagt Kurth.
Fortschritte in der Therapiefindung einzelner Erkrankungen können auch auf andere Krankheiten übertragen werden. Für diese können dann unter Umständen schneller Therapien entdeckt werden. „Solche übertragbaren Ansätze sehen wir immer häufiger“, sagt der Humangenetiker.
Neue Technologien, mit deren Hilfe das gesamte Genom innerhalb kurzer Zeit sequenziert werden kann, erleichtern die Aufgabe ungemein. In Deutschland wird derzeit das „Modellvorhaben Genomsequenzierung“ umgesetzt: Im Projekt wird das Genom von Menschen mit seltenen Krankheiten oder Krebserkrankungen untersucht. Dabei sollen weitere Mutationen wie die des RNU4-2-Gens gefunden werden und die Genommedizin stärker in der deutschen Gesundheitsversorgung zur Anwendung gebracht werden.
Für Kurth ist es ein wichtiger Schritt: „Seltene Erkrankungen wurden lange kaum beachtet, eben weil sie jede für sich genommen selten sind und oberflächlich betrachtet weniger relevant erschienen“, so der Humangenetiker. „Aber seltene genetische Krankheiten sind in der Summe gar nicht selten: Allein in Deutschland sind etwa 4 Millionen Menschen betroffen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich