Familien im Ukraine-Krieg: Spagat zwischen Krieg und Kindeswohl
Ukrainische Eltern in Frontnähe müssen sich sowohl um die Sicherheit ihrer Kinder als auch deren Bildungschancen kümmern. Oft müssen sie sich dafür rechtfertigen.
Ein Kampfjet im Tiefflug hatte die Familie aufgeschreckt. Zum Glück sei es ein Flugzeug der ukrainischen Streitkräfte gewesen, erzählen die Eltern. Doch ihre völlig verstörte neunjährige Tochter weinte trotzdem bis zum Morgen durch. Vergeblich versuchten die Eltern, sie zu beruhigen und dabei ihre eigene Angst nicht zu zeigen.
Natalija und Wadym hatten lange von diesem Wochenendausflug mit ihrer Tochter Vira geträumt, weitab von der sommerlichen Hitze der Stadt. Sie wollten wieder einmal frische Waldluft atmen und ihrer Tochter die Sternbilder zeigen, die diese bislang nur aus Büchern kannte.
Abendliche Sperrstunde seit Kriegsbeginn
Auch im Gebiet Sumy im Norden der Ukraine, wo die Familie lebt, gibt es, wie im ganzen Land, seit Beginn des russischen Großangriffs eine abendliche Sperrstunde. Das heißt, seit zweieinhalb Jahren können die Menschen keine spätabendlichen Spaziergänge mehr machen oder mal ein bisschen länger bei Freunden verweilen.
Das ist besonders für Familien in Etagenwohnungen anstrengend, wenn sie nach langen heißen Sommertagen einzig auf dem Balkon etwas Abkühlung finden können. Und selbst das ist nicht immer ungefährlich.
„Dass wir in unserer Heimatstadt bleiben, war eine wohldurchdachte Entscheidung. Solange die Situation in Sumy noch nicht absolut kritisch ist, werden wir weder in die Westukraine noch ins Ausland gehen. Denn wenn wir gehen, gehen andere auch. Und dann geht es mit der Wirtschaft in der Region bergab“, entgegnet Natalija nachdrücklich allen, die ihr vorwerfen, ihrem Kind gegenüber unverantwortlich zu handeln. So etwas hört sie oft von Eltern, die ihre Kinder aus an Russland angrenzenden Gebieten fortgebracht haben.
Dem Kind eine schöne Kindheit gestalten – trotz Krieg
Seit dem Frühling 2024 gehört Sumy zu den potenziellen Kampfgebieten. Die Entscheidung, dort zu bleiben, bedeutet für Natalija als Mutter auch, alles dafür zu tun, dass ihr Kind eine möglichst sichere und auch schöne Kindheit hat. Natalija und Wadym opfern dafür ihre gesamte freie Zeit, manchmal sogar ihre eigene Sicherheit und die Möglichkeit, als Familie zusammenzubleiben.
So musste Wadym zum Beispiel ins knapp vierhundert Kilometer entfernte Dnipro umziehen, da er hier deutlich mehr verdient, als es in Sumy möglich wäre. Natalija ist Messtechnikerin und leitet ein Labor in einem staatlichen Unternehmen. Angesichts des Mangels an qualifiziertem Personal in den frontnahen Gebieten der Ukraine machen ihre Kompetenz und ihre Bereitschaft, auch zu Kunden in häufig beschossene Gebiete zu reisen, Natalija zu einer wertvollen Kämpferin an der Wirtschaftsfront.
Konkurrenz mit ins Ausland geflüchteten Kindern
„Ich bin mir bewusst, dass nach Ende des Krieges der Lernerfolg von Kindern aus den grenznahen Gebieten und derer, die ganz normal zur Schule gehen oder im Ausland lernen, nach den gleichen Kriterien gemessen wird. Und meine Tochter lernt die ganze Zeit nur online. Sie erinnert sich nur noch vage daran, wie ihre Klassenkameraden aussahen.“ Natalija ist sich sicher, dass ihr Kind keine Ausnahmeregelungen oder erleichterte Bedingungen bei Prüfungen erwarten kann, nur weil sie aus einer Stadt in Frontnähe kommt.
Besonders viel Sorgen macht sie sich darum, wie ihre Tochter in Fremdsprachen wird mithalten können. Denn viele Gleichaltrige gehen schon seit über zwei Jahren im Ausland zur Schule. Deshalb scheut Natalija keine Kosten und Mühen, um ihrer Tochter Englisch-Privatunterricht zu ermöglichen.
„Gute, wenn auch gebrauchte englischsprachige Kinderliteratur suche ich auf eBay. Das ist viel billiger, als neue Lehrbücher in ukrainischen Buchläden zu kaufen“, sagt sie und ist besonders stolz auf ihr letztes Super-Schnäppchen: eine Sammlung von 50 Kinder-Minibüchern.
Schule seit Jahren nur noch online
Ihre Tochter Vira besucht eine Schule mit künstlerischem Schwerpunkt, wo sie auch Geige spielen lernt. Das Mädchen träumt davon, später einmal die erste Geige im Nationalen Sinfonieorchester der Ukraine zu spielen. Außerdem spielt sie Basketball – sie ist ziemlich groß für ihr Alter. Davor war sie vier Jahre beim Tanzen. Die Eltern wünschen sich, dass Vira in ihrer Kindheit eine Beschäftigung findet, die ihr auch in Zukunft Freude und ein gesichertes Einkommen einbringen wird.
Neben den außerschulischen Aktivitäten versucht Natalija, die Bildung ihrer Tochter möglichst effizient zu organisieren. Das ist nicht einfach, wenn der gesamte Unterricht nur online stattfindet und zudem noch von regelmäßigen Stromausfällen unterbrochen wird. Vor allem ist es teuer. Vor Beginn des neuen Schuljahres hat Natalija achtzig Prozent des Haushaltseinkommens der Familie für schulische Belange ausgegeben, u. a. hat sie Highspeed-Internet installiert und einen leistungsfähigen Stromgenerator gekauft.
Natalija gibt zu, dass sie von ihrer Tochter viel schulischen Fleiß verlangt, weil davon Viras Zukunft abhängt. Gleichzeitig versucht sie, sanfter mit dem Mädchen umzugehen. Denn schließlich sind Kinder in der Grenzregion, die jeden Tag Explosionen und Luftalarm hören und den Krieg aus nächster Nähe erleben, nervöser und verletzlicher.
Konstante Risikoeinschätzung
„Wir bemühen uns sehr darum, dass unser Kind Nachrichten weder hört noch liest. Deshalb haben wir zum Beispiel eine Eltern-App auf Viras Smartphone installiert, um zu kontrollieren, was sie dort tut.“ Natalija ist strikt dagegen, vor Kindern über die Grausamkeiten des Krieges zu sprechen oder sie diese sehen zu lassen. „Auch im Krieg liegt die Hauptverantwortung für die mentale Gesundheit der Kinder bei ihren Eltern“, meint sie.
„Wie auch immer, die wichtigste Aufgabe von Eltern ist es, ihre Kinder zu schützen. Wir beobachten konstant die Situation, schätzen Risiken ein. Sollte es in Sumy gefährlicher werden, ziehen wir schon die Möglichkeit einer Evakuierung in Betracht“, fasst Natalija zusammen, bevor sie ihre Tochter vom Training aus der Sportschule abholt.
Aber die Situation im Gebiet Sumy seit Beginn der Kursker Operation der ukrainischen Streitkräfte Anfang August verschlechtert sich ständig. Die russische Armee beschießt die zivile und Energieinfrastruktur der Region mit Raketen, Gleitbomben, Drohnen und Artillerie.
Jobverlust nach Raketenbeschuss
Anfang September war die 43-jährige Olga aus Sumy auf Nachtschicht, als ein Gebäude ihrer Fabrik von einer russischen Rakete getroffen wurde. Olga hatte noch Glück, sie kam mit Kratzern und Schürfwunden durch Glasscherben und herunterfallende Deckenteile davon.
Als sie das Hauptgebäude der Fabrik betrat, sah sie tote und verletzte Kollegen. Einer Frau hatten Schrapnelle den Bauch aufgerissen, ihre Organe quollen heraus. Einer anderen waren beide Beine gebrochen. Trotz des erlittenen Schocks und dem Feuer, das die russische Rakete verursacht hatte, leistete Olga ihren verletzten Kollegen Erste Hilfe.
Zu Hause versuchte sie später, ihre drei Kinder nicht zu verängstigen, als sie vom Verlust ihres Arbeitsplatzes erzählte. Denn dieser Arbeitsplatz existiert schlicht nicht mehr. „Solange ich keinen neuen Job finde, leben wir nur noch vom Gehalt meines Mannes. Neben den normalen familiären Ausgaben haben wir allerdings bisher nie am wichtigsten Hobby unserer Kinder, dem Tanzen, gespart“, erzählt Olga. Sie ist stolz auf das tänzerische Talent ihres Sohnes und ihrer beiden Töchter.
Tanztraining als Investition in die Zukunft
Alle drei nehmen regelmäßig an Tanzaufführungen teil und überzeugen bei regionalen und internationalen Wettbewerben. Die Teilnahme an solchen Turnieren, das Training und die aufwändigen Kostüme, all das verschlingt den größten Teil des Haushaltsbudgets von Olga und ihrem Mann Oleksander. Aber sie glauben, dass die Kinder auch ihr weiteres Leben mit dem Tanzen verbinden werden. Aus diesem Grund bleibt die Familie in Sumy, wo die Kinder schon seit Jahren ihre Lieblingstrainer haben, die ebenfalls in der Stadt bleiben.
Eltern aus ukrainischen Städten an der Grenze zu Russland sind zunehmend mit Kritik und Unverständnis konfrontiert, warum sie dort bleiben und ihre Kinder nicht in Sicherheit bringen. Dass sie damit auch das gewohnte Leben der Kinder zerstören und diese auch ihre Ziele und Träume aufgeben müssen, wird dabei gerne übersehen. Mit jedem neuen Tag der sich verstärkenden Kämpfe wird dieses Dilemma für Eltern größer und es wird immer schwerer, die richtigen Lösungen zu finden.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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