: Fallobst
Dreißig Jahre Warten auf den Nobelpreis – Jetzt ist er da, doch Grass ist weg
Man klingelt vergeblich bei der „Integrationsgruppe Harmonie“ an diesem regnerischen Herbstnachmittag. Auch nützt es nichts, wahllos eine Mehrfamilienhausklingel zu betätigen und „Ich bin es“ zu rufen. „Wer ist ich?“, blecht es nämlich zurück. Ein anderer, denkt der Reporter und schweigt besser still. Die Tür bleibt verschlossen.
Nebenan, im Haus Nummer 13, bei den Grassens sowieso. Die lassen keinen rein heute. Seit ein paar Minuten wird es im Radio gemeldet, jetzt hat er den Preis, auf den er jahrzehntelang gewartet, ja den er erwartet hat. In diesem Haus hätte 1972 das Telefon klingeln und die frohe Botschaft übermittelt werden sollen – aber da war Böll erst dran. Am Preis, nicht am Telefon. Jetzt ist der Preis da, endlich, doch Grass ist weg. Auf dem Messingklingelschild steht zwar sein Name, die Familie wohnt noch dort, zum Teil, zu welchem genau, muss man raten. Oder klingeln und einfach fragen ...
Der Nachmittag gähnt bleiern, da, ein zu schnell fahrender Kleintransporter, der von einer schimpfenden Mutter auf spielende Kinder hingewiesen wird und kleinlaut abbremst, dann ist es wieder ruhig, nur der Regen und der Ball tönen, von fern die Hauptstraße. Da kommen zwei Mädchen vom Spielplatz, der Nieselregen scheint Ernst zu machen, die Mädchen haben das Spielen aufgegeben und betreten Grundstück Nummer 13, fragen den Reporter zu Recht, was er denn da macht, und er verwickelt sie geschickt in ein Gespräch, statt zuzugeben, dass er spioniert, die Kreideschrift auf der Treppe („Anne“, gleich mehrmals, hat wohl gerade schreiben gelernt, die Anne) memoriert und alles, was er entdecken kann, was etwas bedeuten könnte, dass er neugierig ins Arbeitszimmer schielt, dann ins Kinderzimmer und sich wundert, dass gar keine Vorhänge vorgezogen sind, kein Wachhund bellt, dass man einfach klingeln kann (ob es wohl bimmelt, schellt oder läutet?), wenn man sich traut, dass im ersten Stock tatsächlich noch eine große rote, lachende Sonne der Kernenergie eine höfliche Absage erteilt, nein danke.
Die Grassens wohnen doch hier, tastet der Reporter sich vor. Ja, das sind wir, nicken die Mädchen. Der Reporter staunt. Echte Grassens. Er möchte mehr wissen, wie denn der Opa Günter und wann zuletzt und ob nicht – da erscheint die Mutter der beiden. Sie muss gar nichts sagen, der Reporter hebt entschuldigend die Hände, zieht von dannen, drinnen kreischen die Kinder und die Mutter dreht den Schlüssel zweimal um.
Es ist sein Haus, es ist seine Familie, es ist sein Tag heute, aber es ist nicht mehr sein Zuhause, diese Nummer 13. Es wird früh dunkel, und die 13 beginnt zu leuchten, wie in all den Jahren zuvor.
Nachwuchsautor Benjamin v. Stuckrad-Barre über seine Tätigkeit am Nachmittag des 30. September. Abgedruckt auf den „Berliner Seiten“ der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 1. 10.
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