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Fachkräftemangel in der AltenpflegeEin Beruf mit Zukunft

Ethan Quaißer will Altenpfleger werden. Für den 18-Jährigen sein Traumberuf. Die taz hat ihn in der Berufsfachschule und beim Arbeiten begleitet.

„Guten Morgen!“: Ethan Quaißer bei seiner Arbeit in einer WG für demente Menschen Foto: Stefanie Loos

Alles, was von Elfriede ­Wagners* Leben noch übrig ist, steht auf zwei DIN-A4-Seiten. Dort heißt es: „Frau W. spricht von sich aus nicht. Antwortet auf einfache Fragen mit Ja, Nein oder Ach. Es lässt sich nicht ermitteln, was sie noch weiß. Sie wirkt sehr freundlich und zugewandt. Wenn ihr etwas nicht gefällt, macht sie das durch Mimik und Gestik deutlich. Essen und trinken kann sie nicht mehr selbstständig. Sie hat eine gesetzliche Betreuerin für alle Bereiche. Sie hat anscheinend keine Angehörigen. Sie kann ihren Haushalt nicht mehr alleine führen.“

Frau Wagner ist dement. Sie ist 92 Jahre alt und lebt in Oberschöneweide, Bezirk Treptow-Köpenick. Die Zehnzimmerwohnung mit dem Linoleum in Beige und den gelben Wänden, dem großen Wohnzimmer und der offenen Küche teilt sie sich mit sieben Frauen und zwei Männern. Auch sie sind alt und dement, auch in ihren Akten steht, was sie noch können und was nicht. Es ist nicht mehr viel.

Die Bewohner sind darauf angewiesen, dass andere Menschen sie aufwecken, bekochen, waschen, hochheben, absetzen, herumfahren. Und manchmal auch einfach nur ihnen gut zureden, mit ihnen „Mensch ärgere Dich nicht“ spielen oder sie in den Arm nehmen.

Rund 116.000 pflegebedürftige Menschen gibt es derzeit in Berlin. In zwölf Jahren werden es laut Landesamt für Gesundheit und Soziales 170.000 sein. Darauf ist hier niemand vorbereitet. 8.000 Pflegekräfte fehlen bis 2030 allein in der Hauptstadt, 35.000 werden es in ganz Deutschland sein.

Der demografische Wandel

Was diese Zahlen praktisch bedeuten, erklärte ein 21-jähriger Auszubildender im September 2017 in einer Wahlkampfsendung mit Angela Merkel so anschaulich, dass es danach niemand mehr ignorieren konnte: „Menschen, die dieses Land aufgebaut haben, liegen stundenlang in ihren Ausscheidungen, weil es an Pflegepersonal mangelt“, sagte er.

Pflegebedürftig in Berlin

Zu wenig PflegerInnen 116.000 Pflegebedürftige gibt es zurzeit in Berlin, 2030 werden es laut Schätzungen 170.000 sein. 42.000 Beschäftigte arbeiten in der Pflege, viele von ihnen in Teilzeit – bis 2030 werden bis zu 8.000 Pflegekräfte in der Hauptstadt fehlen.

Hilfe 75 Prozent der Pflege­bedürftigen werden zu Hause und von Angehörigen gepflegt, 51 Prozent sogar ausschließlich von Angehörigen. Für sie gibt es in Berlin 35 Pflegestützpunkte, die beraten und unterstützen, 600 ambulante Pflegedienste, 300 stationäre Einrichtungen und über 600 Wohngemeinschaften, die sich um Pflege­bedürftige kümmern. (sum)

Seit diesem Auftritt weiß es auch der Letzte: In Deutschland herrscht Pflegenotstand. Jeder kennt die Grafik der tannenbaumförmigen Alterspyramide, deren stärkster Umfang sich immer mehr nach oben verschiebt. Jeder weiß vom demografischen Wandel. Das Pflegesystem aber kann nicht darauf reagieren. Die Arbeitsbelastung in den Heimen ist zu groß, die Bezahlung zu niedrig.

Es gibt Pflegeheime, in denen müssen sich zwei Pflegekräfte um 50 alte Menschen kümmern. Es gibt meist nur den Mindest-, oft keinen Tariflohn. Es gibt zu wenig Vollzeitstellen und zu wenige Fachkräfte. Altenpfleger mit Abschluss werden gesucht, trotzdem will den Beruf keiner machen. Die Zahl der Berufsanfänger ist in den letzten Jahren zwar wieder gestiegen. Groß genug, dass der Bedarf gedeckt wäre, ist sie aber noch lange nicht.

Im zweiten Stock eines heruntergekommenen Neubaus in der Axel-Springer-Straße in Kreuzberg scheinen diese Zahlen Anfang April niemanden zu verunsichern. Es ist der erste Schultag für den Kurs AB18, eine Klasse von 35 Schülern an der VIA Berufsfachschule für Altenpflege. Alle sind hier, weil sie AltenpflegerInnen werden wollen. Der Jüngste ist Ethan Quaißer: Adidas-Jogginghose, Nike-Schuhe, silberne Ohrringe, ein Kreuz mit Flügeln auf dem Nacken tätowiert. Mit seinen 18 Jahren ist er so jung, dass manche Mit­schüler seine Eltern sein könnten.

„Altenpflege als Beruf“ heißt das Fach

Bis 2030 werden, so Schätzungen, 8.000 Pflegekräfte in Berlin fehlen Foto: dpa

Der Kurs AB18 ist ein sogenannter Mischkurs. Voll- und Teilzeitauszubildende lernen hier miteinander. Die meisten von ihnen haben vorher schon in der Pflege gearbeitet, meist als Pflegehelfer. Das ist so etwas wie die Vorstufe zur staatlich anerkannten Pflegefachkraft, der es anders als den Pflegehelfern erlaubt ist, Medikamente zu verabreichen. Um das zu dürfen, sind die AB18er hier. Doch bis es so weit ist, wird es noch drei bis vier Jahre dauern. Bis dahin werden sie Dinge lernen müssen wie Gesprächsführung und Kommunikation, Einführung in die Ethik, Geschichte der Pflege oder Gesetze der Altenpflege.

„Sie alle sind hier, weil Sie einen Grund haben, hier zu sein“, begrüßt die Lehrerin Angelika Mosshammer den Kurs am zweiten Schultag. „Altenpflege als Beruf“ heißt das Fach, das sie unterrichtet. Während Mosshammer sich noch sortiert, murmelt eine Schülerin: „Na klar hab ick ’en Grund, hier zu sein. Ich hab keen Bock mehr, dass ick immer nur die Scheißarbeit machen soll.“ Die Schülerin ist über 40 Jahre alt, arbeitete jahrelang als Pflegehelferin.

Mosshammer spult derweil ihr Programm ab: Die Zukunft der Altenpflege sei ein komplexes Thema. Für die Schüler sei es daher wichtig, eine Haltung zu ihrem Beruf zu entwickeln. „Warum ist das wichtig?“, fragt sie in die Runde. Ethan Quaißer meldet sich: „Weil man dahinterstehen muss, was man macht“, meint er. „Genau“, sagt Mosshammer. „Und nun bitte ich Sie, dass Sie in einer Gruppenarbeit gemeinsam besprechen, warum Sie sich zu dieser Ausbildung entschieden haben.“

Mit einem schwarzen Filzstift schreiben Quaißer und seine fünf Sitznachbarinnen ihre Gründe erst einmal für sich auf. Als sie fertig sind, beginnen sie zu diskutieren. Die Mitschülerinnen sagen zum Beispiel: „Ich will meinen Kindern etwas bieten können.“ Oder: „Ich will Dinge verändern und auch mal neue Produkte wie Urinalkondome einsetzen.“ Quaißer erklärt: „Altenpfleger ist ein Beruf mit Zukunft.“ Und: „Alte ­Menschen wird es immer geben.“

Nach der Schule ein Freiwilliges Soziales Jahr

Seine Freunde verstehen das nicht. „Die sagen zu mir, du wischst den alten Leuten doch nur den Po ab.“ Ethan aber ist das egal. „Die haben ja keine Ahnung, was wir für eine Verantwortung haben.“ Mit 14 Jahren machte er sein erstes Praktikum in der Tagespflege – „dem Kindergarten für Erwachsene“, lacht er. Gedacht war es als Disziplinarmaßnahme. „Hab viel Scheiße gebaut damals.“

Dass sich Herr Depfner an Frau Maurer anschleicht, um sie zu erschrecken, bekommt Ethan Quaißer nicht mit. Wohl aber, dass sie erschrickt. Seine beiden Kolleginnen lachen. Ethan ist ein Glücksfall für die Senioren, sagen sie.

Seine Mutter, die ihre Kinder mit 18 und 19 Jahren bekam, arbeitete den ganzen Tag. Der Opa lag im Sterben. Krebs. Ethan Quaißer liebte ihn, hatte aber kaum Kontakt und konnte sich nicht von ihm verabschieden. Eine Sozialarbeiterin empfahl ihm danach den Job, der mehr wurde als eine Disziplinarmaßnahme. Ihm gefiel es so gut, dass er sogar in den Schulferien dort arbeitete und nach der Schule ein Freiwilliges Soziales Jahr dranhängte.

Anders als fast ein Drittel seiner Mitschüler arbeitet Quaißer nicht in der stationären, sondern in der häuslichen Pflege. Dort leben die Senioren weiterhin in ihrem eigenen Zuhause. „Wir kommen zu Ihnen nach Hause“, lautet das Motto, nach dem gearbeitet wird. Manchmal nur ein paar Stunden, manchmal den ganzen Tag. So ist es auch in der Wohngemeinschaft von Frau Wagner und ihren Mitbewohnern. Wie in einer ganz normalen WG mieten die Bewohner dort ein Zimmer; 14 Quadratmeter für etwa 450 Euro warm. Alle Möbel in der Wohnung gehören den Bewohnern. Schrankwände, Sofas und Ohrensessel.

Die VIA Pflege gGmbH, für die Quaißer arbeitet, erfüllt damit die Arbeit eines Dienstleisters, der 24 Stunden vor Ort ist. Von Quaißer und seinen Kolleginnen werden die Bewohner deshalb auch „Klienten“ und die Wohngemeinschaft „Demenz-WG“ genannt. Sie arbeiten immer zu zweit. Wenn Quaißer dabei ist, auch zu dritt. Ein lu­xu­riö­ser Personalschlüssel. Je nach Pflegegrad kostet die Betreuung durch VIA Pflege zwischen 2.000 und 3.000 Euro im Monat – nicht teurer als ein Platz in einem Heim. Bezahlt wird dieses Geld durch die Pflegeversicherung und das eigene Vermögen der Bewohner. Wer die Summe nicht aufbringen kann, muss einen Kostenzuschuss beim Sozialamt beantragen.

Der Wecker klingelt schon um 4.30 Uhr

Was macht die Politik?

Geringer Verdienst In Berlin liegt der durchschnittliche Bruttoverdienst einer Fachkraft in der Altenpflege bei rund 2.400 Euro. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn im Metallgewerbe ist 4.300 Euro brutto. Aber auch in der Krankenpflege wird rund 30 Prozent mehr verdient.

„Pakt für die Pflege“ Weil der Bedarf an Pflegekräften steigt und um die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern, hat Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) einen „Pakt für die Pflege“ zwischen dem Senat und allen wichtigen Trägern der Altenpflege ausgerufen. Erstes Ziel sei, „einen Flächentarifvertrag in der Altenpflege abzuschließen“, sagte Kolat im Dezember.

„Sofortprogramm“ Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat im Mai einen Gesetzentwurf für ein „Sofortprogramm“ vorgestellt. Danach sollen 13.000 neue Stellen in Altenpflegeheimen geschaffen werden; mindestens eine halbe Stelle für kleine Heime und bis zu zwei Stellen in großen Einrichtungen. Der Sozialverband VdK geht von 60.000 fehlenden Personalstellen aus. (taz, dpa)

Ende Mai, Ethan Quaißer ist nun seit fast zwei Monaten Azubi bei der VIA Pflege gGmbH. Von Montag bis Mittwoch arbeitet er dort, Donnerstag und Freitag hat er Schule. Heute ist Dienstag, er hat Frühschicht. Sie beginnt um 6.30 Uhr und endet um 15.30 Uhr. Weil Quaißer in Wedding wohnt, klingelt sein Wecker schon um 4.30 Uhr. Bis nach Oberschöneweide dauert es eine Stunde.

Zwei Bewohner sind schon wach, als Quaißer eintrifft. Sie sitzen noch am Frühstückstisch. „Guten Morgen, Frau Maurer*, guten Morgen, Herr Depfner*!“ Erst danach begrüßt er seine beiden Kolleginnen, die sich unterhalten. „Wessen Rollator ist ’n hier auseinandergefallen?“ Quaißer lacht und marschiert ins Zimmer von Frau Wagner. Langsam schiebt er die Tür zu ihrem Zimmer auf. Auf ihr klebt ein pinkfarbenes DIN-A3-Plakat. Elfriede Wagners* Name steht dort mit einem Wachsmalstift geschrieben. Der i-Punkt in ihrem Vornamen ist durch einen Stern ersetzt. Im Zimmer ist es still. Sie schläft noch. „Die alte Langschläferin“, sagt Quaißer und kichert.

Also erst mal Frühstück vorbereiten. Dann zu Herrn Baum* ins Zimmer wechseln. Sagrotan, Duschgel, Waschlappen zusammensuchen. Die rote Jogginghose festbinden und den entzündeten Katheter untersuchen. Herrn Baum an die Hand nehmen und ins Bad bringen, zwei Minuten für zwei Meter. „Herr Baum braucht zurzeit für alles etwas länger“, seit eine Seniorin mitten im Wohnzimmer zusammenbrach, starb und das Bestattungsunternehmen kam, um ihren Leichnam abzuholen. „Das Bild mit dem Holzsarg hat Herr Baum nicht mehr vergessen.“ Einmal sagte er zu Quaißer, als er der ihn fragte, wie es ihm geht: „Das ist hier ja schon meine letzte Station.“

Um 11 Uhr, nach dem Frühstück mit Herrn Baum und den sechs anderen Senioren, zurück zu Frau Wagner ins Zimmer. Das Toastbrot mit Marmelade bestreichen und in vier Stücke schneiden. Dazu einen Kakao. Den Fernseher anschalten, 3sat einstellen. „Geschichten über damals mag sie am liebsten.“ Danach raus in den Flur und die kleine Hochkommode ansteuern, in der die Akten aller Bewohner liegen. Quaißer sucht nach dem blauen Ordner. „K“ für Kakao trägt er dort ins Trinkprotokoll ein.

Herr Depfner schleicht sich an

Dass sich Herr Depfner an Frau Maurer anschleicht, um sie zu erschrecken, bekommt er nicht mit. Wohl aber, dass sie erschrickt. Seine beiden Kolleginnen lachen. „Ethan ist ein Glücksfall für die Senioren“, sagen sie. Herr Baum will fast nur von ihm gewaschen werden, Frau Wagner mag ihn am liebsten. „Die Senioren schätzen an ihm, dass er so jung ist. Manche erinnert das an ihre eigenen Kinder“, erklärt eine Kollegin.

Während auf 3sat gerade eine Reportage über Fabergé-Eier läuft, zieht Quaißer sich die Handschuhe an und beginnt, Elfriede Wagners Medikamente für die Woche in eine farbige Box zu sortieren: zehn Präparate gegen hohen Blutdruck, Schmerzen, Depression, Parkinson, Durchblutungsstörung, Verstopfung und Fieber.

„Hat es Ihnen geschmeckt, Frau Wagner?“, fragt Quaißer, als er bemerkt, dass die nicht mehr isst. Elfriede Wagner lächelt und sagt: „Ja.“ Quaißer streift sich die Handschuhe vom Finger, geht zu ihr und streicht ihr übers Haar. „Das ist schön“, sagt er. Dann geht er hinaus, zu den anderen. Frau Maurer will sich an Herrn Depfner rächen – im „Mensch ärgere Dich nicht“.

„Alte Menschen sind so freundlich und höflich, die sagen noch Danke“, erklärt Quaißer, wenn man ihn fragt, warum er diesen Job macht. Das Gehalt, die Zukunftsaussichten, all das macht ihm keine Angst. Es motiviert ihn eher. „In der Schule reden wir oft darüber, dass es gar nicht anders geht, als dass wir irgendwann besser bezahlt werden“, erzählt Quaißer. Und er glaubt daran.

Und seine Mitschüler, die bei Vivantes arbeiten, in den großen Heimen? Die kaum Zeit haben, dem ganzen Stress ausgesetzt sind? „Na ja, da ist man doch auch ein bisschen selbst schuld, wenn man da hingeht“, sagt Quaißer. „Man weiß doch, dass Altenpflege auch anders möglich ist.“ Mit mehr Zeit für die Senioren, mit mehr Kollegen, mit mehr Gehalt. Noch verdient Ethan Quaißer aber selbst nur 850 Euro brutto im Monat. Kein Tariflohn.

* Namen geändert

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