FDP-Fraktionsvize über Paragraf 219a: „Dieses Missverhältnis ist grotesk“
Die Reform des Paragrafen 219a sei unzureichend, sagt Stephan Thomae. Die FDP erwägt den Gang zum Bundesverfassungsgericht.
taz: Herr Thomae, am Donnerstag hat der Bundestag die Reform von Paragraf 219a beschlossen. Die FDP erwägt, diese vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Warum?
Stephan Thomae: Wir prüfen das im Augenblick sehr ernsthaft. Grundsätzlich gilt: Wenn der Staat eine Tat seines Bürgers mit dem schärfsten Mittel ahnden will, das er hat, also mit dem Strafrecht, dann muss schon strafbares Unrecht geschehen sein. Ich frage mich: Wo liegt das in diesem Fall? Die Bundesärztekammer und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erhalten geradezu den gesetzlichen Auftrag, sachliche Information für ungewollt schwangere Frauen und Mädchen zu veröffentlichen – und die gleiche Information auf der Webseite eines Arztes soll strafbares Unrecht sein? Dieses Missverhältnis ist so grotesk, dass sich die Frage stellt, ob das nicht auch verfassungsrechtlich bedenklich ist.
Die FDP hat selbst zunächst für eine Reform plädiert. Jetzt fordert Ihre Fraktion entschieden die Abschaffung. Woher diese Radikalität?
Wir haben sehr lange und intensiv für unseren vermittelnden Vorschlag geworben, in der Hoffnung, eine breite parlamentarische und auch gesellschaftliche Mehrheit zu erreichen. Dafür wollten wir in den Paragrafen nur maßvoll eingreifen, also das Verbot grob anstößiger Werbung stehen lassen und nur die sachliche Information straffrei stellen. Wir haben aber auch immer gesagt: Wenn es diese Mehrheit für unseren Vorschlag nicht gibt, dann sind wir bereit, an jeder anderen Verbesserung der Rechtslage mitzuwirken.
Das, was jetzt beschlossen wurde, könnte man ja auch als „maßvollen Eingriff“ beschreiben. Der stellt Sie aber nicht zufrieden?
Nein. Um eine Verbesserung der Situation zu erreichen müsste vollumfängliche sachliche Information straffrei möglich sein. Zum Beispiel das, was die verurteilte Gießener Ärztin Kristina Hänel auf ihrer Webseite beschreibt: Was mit dem Eingriff verbunden ist, worauf die Frau sich einstellen muss. Genau das kommt jetzt nicht. Sie und ich, wir könnten über Abbrüche informieren, und jeder andere auch – nur der Arzt, der die Abbrüche durchführt, der darf es nicht. Das ist eine befremdliche Konstellation.
50 Jahre alt, ist Vize-Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag
Warum? Ist nicht das wichtigste, dass die Information in der Welt ist?
Es ist doch ganz klar: Eine Frau möchte in einem solchen Fall von jemandem informiert werden, der sich mit der Materie auskennt. Und wer kennt sich besser aus mit den sich immer wieder stellenden Fragen und Nöten von Patientinnen als der Arzt, der diesen Eingriff regelmäßig durchführt? Da kann es ja um ganz triviale Fragen gehen; wie lange dauert der Eingriff, kann ich am selben Tag wieder Auto fahren? Deswegen wäre es richtig, dass genau die informieren dürfen, die den Schwangerschaftsabbruch auch vornehmen.
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