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Extremsport RoofingAuf's Dach gestiegen

Marcel ist Roofer. Nachts klettert er auf Hochhausdächer. Auf der Suche nach dem Kick. Und nach einem Gefühl: Freiheit.

Völlig losgelöst steht Marcel am Abgrund. „Boah, wie geil.“ Bild: privat

Marcels Stoffturnschuhe biegen sich um die rostigen Streben der Sprossenleiter. Seine Arme ziehen sich hoch, seine Beine folgen. Auf dem Dach einer alten Filmfabrik in Köpenick drehen sich die Abluftlamellen, Marcel spürt die Steine des Teerdachs, das sich unter ihm wellt. Er hüpft über eine Erhöhung, noch mehr Sprossen, dann der Dachrand: Marcels Fuß ertastet den Untergrund, 40 Zentimeter, die ihn noch von der Kante trennen. Unter der dünnen Gummisohle des Schuhs knackt das Aluminium der Dachkante. Marcel setzt beide Füße auf, dann lehnt er sich vor: Abgrund.

Seine blauen Augen blicken hinunter, senkrecht, freier Fall, 50 Meter in die Tiefe. Unten verlieren sich Bauschutt und Glasscherben zwischen kahlen Bäumen. „Das ist doch gar nichts“, sagt er und lässt die Füße über die Dachkante baumeln.

Marcel, 20 Jahre alt, 1,89 Meter groß, ist Roofer. Er klettert auf Dächer, besteigt die Spitze von Türmen, hangelt sich an Baukränen entlang – ungesichert. Für den Kick. Und für das perfekte Foto. Marcel hat seine Kamera immer dabei.

Marcel denkt nach, was ihm durch den Kopf geht, wenn die Stadt unter seinen Füßen liegt. Mal sei es nur ein einziger Satz, immer wieder: Boah, wie geil. Boah, wie geil. Mal eine Gefühlsexplosion. „Es ist ganz komisch, das Gefühl. Klingt scheiße irgendwie, aber: Freiheit.“ Ein Gefühl. Und dieser Kick: Dass sein Körper versagen könnte, die Muskeln plötzlich erschlaffen, die Hände einfach loslassen könnten – die bloße Wahrscheinlichkeit dieser Ungeheuerlichkeiten macht es für Marcel so spannend.

Paragraf 123 nennt es Hausfriedensbruch

Wenn Marcel eine Klettertour plant, meistens am Wochenende, denkt er schon den ganzen Tag über an den Abend. Marcel kann nur nach Sonnenuntergang klettern: Roofing ist illegal, es sei denn, das Gebäude steht leer. Ansonsten ist es Hausfriedensbruch. Nach Paragraf 123 im Strafgesetzbuch gibt es dafür bis zu ein Jahr Haft.

Die Idee des Roofings kommt aus Russland. Dort stellt ein junger Mann namens Marat Dupri Videos von sich ins Netz: wie er, an den Wachmännern vorbei, auf die Spitze des höchsten Gebäudes in Moskau klettert, knapp 100 Meter über dem Erdboden. An einem Abend im August 2011 schaut sich Marcel eines dieser Videos an. „Wow, der Typ, der lebt sein Leben“, dachte er.

In Berlin kennt er keinen, der rooft. Die Szene ist noch sehr klein, in geschlossenen Foren tauschen sich internationale Roofer aus. Marcel wünscht sich Mitstreiter in Berlin, deshalb hat er eine Facebook-Gruppe für europäische Roofer gegründet. Er möchte ihre Bilder posten und sich mit ihnen darüber unterhalten.

Marcel läuft über den Potsdamer Platz, den Blick gen Himmel gerichtet. Dorthin, wo Baugerüste aufhören, wo Kameras und Stacheldraht die Häuserdächer säumen. Er presst die Lippen aufeinander, legt die Hände ans Kinn. „Jetzt beginnt die Observation.“ Er stellt sich vor, wie er vom Kollhoff Tower am Potsdamer Platz 100 Meter unter sich das V der Kreuzung erkennt, sich der markante rote Hochhausturm in den Gläsern des Deutsche-Bahn-Towers spiegelt. Wie er sich an der kanadischen Botschaft an der Sicherheitskamera vorbeischlängelt, um von oben auf das Achteck des Leipziger Platzes hinunterzuschauen.

Drei Wochen lang hat Marcel sein erstes Roofing geplant, das Köpenicker Dach sollte es sein. Marcel beobachtete: Wie ist das Wetter? Ist das Gebäude bewacht? Ist es abgeschlossen? Wo gibt es eine Lücke im Bauzaun? Dann, am 8. September 2011, nach der Berufsschule, packte er Taschenlampe und Spiegelreflexkamera in einen Seesack und zog los. Lief um das braune Backsteingebäude auf dem Industriegelände herum, entdeckte eine Lücke im Sicherheitszaun und die bröselnde Steintreppe, über die es in die letzte Etage geht.

50 Mal ist Marcel seitdem dort oben gewesen. Er hat dort mit Freunden Musik gehört, den Sonnenuntergang fotografiert, sich hingelegt und die Wolken vorbeiziehen lassen. 2015, sagt er, wolle ein Investor hier Wohnhäuser bauen lassen. Marcels Stimme wird traurig: Er klingt, als ginge ein guter Freund.

Aber das reizt ihn: Punkte, die es bald nicht mehr gibt. Zweimal hat er sich auf Kränen vom Fahrerhäuschen bis zur Spitze auf den Streben vorgetastet, um von dort aus zu knipsen. Nach dem Spätdienst, Marcel arbeitet an der Rezeption eines Hotels, nachts um eins, oder wenn das Orange des Himmels lockt: dann macht Marcel seine Runden. Über die Dächer von Friedrichshain. Auf den Sendemast 17 in Königs Wusterhausen, 210 Meter ist der hoch.

Marcel steht auf dem Köpenicker Dach und streicht sich durch seine hochgegelten Haare. Einmal ist hier ein Polizeiwagen entlanggefahren. „Die bekommen nix mit“, er lächelt verschmitzt. Marcels Nase tropft, durch den Wollstrickpulli zieht der Wind. Eine Jacke trägt er nie, Handschuhe nur, wenn die Fingerkuppen frei bleiben – „für den besseren Griff“.

Klamotten müssen sich an den Körper schmiegen, um sich durch Zaunlücken zu schieben und um sich zwischen Hauswände und Baugerüste zu klemmen. Marcel liebt das: sich durch das Labyrinth des Gebäudes schlängeln, den Weg nach oben suchen: „Es ist eine Herausforderung, wie kleine Hausaufgaben.“

Nach der Schule machte Marcel eine Ausbildung zum Landschaftsarchitekt. Aber der Alltag war ihm zu langweilig, „Büroarbeit von Montag bis Freitag. Das war wirklich eintönig.“ Also schmiss er die Ausbildung, fing eine neue zum Hotelfachmann an. Ihm gefallen die Arbeitszeiten an Feiertagen, die Unregelmäßigkeiten. Keine Routine, nicht der „Alltagstrott der Otto Normalbürger“.

Der Roofer sucht die Schönheit der Welt unter sich – aber eben auch den Kick. Im Kletterwald auf den höchsten Pfahl klettern? „Das verschafft mir kein Adrenalin. Da hast du ja eine Sicherung.“ Sein nächstes Ziel ist ein Berliner Funkturm. „Da stehst du ganz frei, nichts behindert die Sicht nach unten. Wie, als wärst du auf Stelzen.“ Höher, weiter, noch höher. Sein großer Traum: der Burj Khalifa in Dubai, 828 Meter hoch, das höchste Gebäude der Welt.

Natürlich gibt es Menschen, die Angst um ihn haben. Er blendet es aus. Seine Mutter weiß nicht, wo die Fotos gemacht wurden. „Was würdest du sagen, wenn dein Sohn kommt: Hey, ich klettere auf Bauzäune, nachts, ungesichert?“

Einmal lernte er auf einer Feier ein Mädchen kennen, Sarah. Sie gefiel ihm. Am nächsten Morgen „das typische Klischee: sie bei mir, am Frühstückstisch“. Ein Panoramabild vom Sonnenuntergang in Mariendorf, drei Meter lang, hing an der Wand. „Sarah hat gefragt: Hast du das gemacht?“ Dann hat Marcel erzählt, dass er für das Bild illegal auf ein Hochhaus geklettert ist. „Die war da total schockiert von – ich weiß auch nicht, warum.“ Sarah brach den Kontakt ab. Der Freund von Marcels Mutter sagt, ihr Sohn sei vollkommen irre.

Marcel findet das nicht: Die Welt unter sich zu haben, zu sehen, wie alles im Trott ist, das will der 20-Jährige. Hier steht er über allem, schaut von oben herab, wie die Menschen als kleine Ameisen wuseln. „Sie folgen dem System. Wenn ich unten bin, dann laufe ich im Strom. Da wollte ich raus.“ Deshalb macht sich Marcel die Welt untertan. „Nach oben ist immer Platz. Hier oben gibt es keine Regeln.“

Außer die: nichts trinken, nicht an Stangen hängen. Respekt vor der Höhe. „Denn sonst wird man übermütig und stürzt ab.“ So, wie es in Russland schon einigen Roofern passiert sei, erzählt Marcel. „Eine Windböe“, sagt er, „und weg war’n se.“

Marcel steht an der Straße vor der kanadischen Botschaft. Zwischen fahrenden Autos flitzt der Roofer über vier Spuren. „Das ist doch gar nichts“, sagt er, grinst und läuft weiter. Seine Augen schauen auf die Überwachungskamera, oben auf der Botschaft.

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3 Kommentare

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  • T
    @@ätt

    Schöner Besinnungsaufsatz - sagt mal ehrlich: Ist das hier ne Schülerzeitung???

    • T
      @ @@ätt
      @@@ätt:

      Dachte den halben Morgen über den Typ aus dem Artikel nach. Grade Alter nachgesehen. 20, ok. Bei einem Vater oder Mann in einer festen Partnerschaft kann ich mir solch ein Verhalten schwer vorstellen. Was nicht heißt, dass es solche Beziehungen nicht gibt.

       

      Was mich anbetrifft, finde ich die Vorstellung schön, wenn ich mich das nächste Mal in einer der Ameisenkolonnen an Bahnhöfen oder im Berufsverkehr bewege, dass es mehr gibt, als ich im Hamstarrad sehe, in dem sich der Blick auf Leben leider stark auf einen Tunnelblick verengen kann.

       

      Der Artikel ist ein lesenswertes Porträt. Bei meinem nächsten Gespräch mit einem Hotelangestellten weiß ich, wie eingeengt der Mensch sich im Alltag fühlen könnte.

    • B
      bl@
      @@@ätt:

      kinderkacke