rechter aufruhr in england
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„Die meisten sind keine Rassisten“

Die Ausschreitungen vereinen rechtsextreme Influencer, rassistische Aktivisten und unpolitische Mitläufer, sagt Extremismusforscher Matthew Feldman. Für alle drei erfordert es einen eigenen Ansatz

Interview Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

taz: Herr Feldman, Sie forschen seit langem über die extreme Rechte. Sind Sie von den Ereignissen der vergangenen Tage in Großbritannien überrascht?

Matthew Feldman: Schockiert, aber nicht überrascht. Das Muster ist vertraut: Hetze auf sozialen Medien bringt nach ein, zwei Tagen Menschen auf die Straße und es gibt schweren Aufruhr. Wir sehen eine Pipeline, in der Desinformation bei einzelnen politischen Akteuren landet, diese Online-Influencer stacheln dann die Leute an, auf die Straße zu gehen, und das führt zu Gewalt in der realen Welt – die wieder zurück ins Netz schwappt.

taz: Sind die Leute, die auf die Straße gehen, Mitläufer oder Hardliner?

Feldman: Da muss man genau unterscheiden. Zum einen gibt es Anführer. Auch wenn es nicht die eine Bewegung gibt, sind Menschen von Gruppen wie Britain First oder Patriotic Alternative dabei, die von Twitter geblockt waren und inzwischen wieder zugelassen wurden, wie Tommy Robinson und Andrew Tate, die Falschnachrichten verbreiten und Leute dazu bringen, auf die Straße zu gehen. Das ist die erste Gruppe, die Influencer. Die zweite Gruppe ist die der Menschen auf der Straße, die der extremen Rechten zuzuordnen sind. Sie können ein rassistisches Weltbild haben, Nazis sein, sich mit Gruppen identifizieren wie der English Defence League, die es zwar seit über zehn Jahren nicht mehr gibt, aber deren Verbindungen noch da sind. Die dritte Gruppe ist die der Mitläufer und für mich ist sie die wichtigste. Sie sind nicht unbedingt rechtsextrem. Sie teilen möglicherweise manche Sorgen über Einwanderung und Multikulturalismus oder Islam oder das Juden­tum, aber es sind keine Aktivisten. Was wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, ähnelt eher einem Karneval: Man geht einfach hin und guckt zu, und vielleicht vermummt man sein Gesicht und macht ein bisschen mit, nicht weil man gegen Schwarze oder Muslime ist, sondern weil es Samstag ist und man Bier trinken kann und es interessanter ist als Fußball.

taz: Wie ist damit umzugehen?

Feldman: Man muss die drei Gruppen unterschiedlich behandeln. Mit der ersten Gruppe der Ideologen ist es eine Sache der Strafverfolgung, wenn sie zu Gewalt aufhetzen oder Terror verherrlichen oder die Bestimmungen sozialer Medien verletzen. Die zweite Gruppe ist eine politische Angelegenheit. Deutschland ist sehr gut darin, gewalttätige Gruppen zu verbieten, die sich gegen den Staat richten, und auch wir müssen uns angucken, ob es in diesen Gruppen kriminelles Verhalten gibt. Und politische Parteien, etwa Reform von Nigel Farage, müssen sich klar von politischer Gewalt distanzieren. Die dritte Gruppe, die der Mitläufer, ist die größte und schwierigste. Man muss mit ihnen gesellschaftlich und kulturell in den Austausch treten. Den Leuten zu sagen, sie seien dumm und rassistisch, wird wenig ändern. Man muss andere Narrative verbreiten.

taz: Ausgangspunkt der Unruhen war die Ermordung von drei Mädchen in Southport und das Narrativ, der Täter sei ein muslimischer Flüchtling …

Foto: ACS

Matthew Feldman

ist emeritierter Professor für Moderne Ideengeschichte, Experte für Rechtsextremismus und Autor vieler Bücher dazu.

Feldman: Er ist nicht einmal Muslim! Man muss dem entgegentreten und sagen, dass der mutmaßliche Mörder ein in Großbritannien geborener Brite ist, der sein ganzes Leben hier verbracht hat. Wenn die extreme Rechte dann sagt, er sei aber ein Schwarzer, greift sie zum Stereotyp, wonach es bei Schwarzen mehr Kriminalität gibt: Damit sagt sie, es sei egal, dass der Täter in Groß­britannien geboren wurde, und es zähle nur die Hautfarbe. Für so ein Argument gibt es viel weniger Zuspruch in der Mitte der Gesellschaft. Die meisten der Mitläufer sind keine Rassisten.

taz: Wie bewerten Sie die Reaktion der Regierung?

Feldman: Premierminister Keir Starmer hat richtig reagiert, indem er die Lage ernst genommen hat und schnell handelt. Er spricht nun von einer nationalen Polizei­einheit, die im ganzen Land direkt eingreifen können sollte, und das ist zu begrüßen. Aber etwas Ähnliches braucht es auch für die Online-Welt.