Explosion im Libanon: Totales Staatsversagen
Die Katastrophe zeigt, dass die Politik im Libanon vollends gescheitert ist. Die Regierenden hatten das Vertrauen in den Staat schon zuvor verspielt.
Es war nicht nur der Albtraum seiner Sicherheitsleute, dass ihr Chef mitten in der libanesischen Hauptstadt mit den Menschen auf Tuchfühlung ging. Es war auch der Albtraum seines ihn begleitenden Gastgebers, des libanesischen Präsidenten Michel Aoun. Denn die Bewohner des Viertels besannen sich auf den alten Slogans der Arabellionen 2011 und riefen: „Das Volk will des Sturz des Systems“.
Die Visite machte auch das Scheitern der libanesischen Politik nach der Explosion deutlich. Es war der Franzose, der mit den Menschen auf der Straße in Beirut sprach. „Ich sehe die Emotionen in euren Gesichtern, eure Traurigkeit und euren Schmerz. Deshalb bin ich gekommen“, erklärte er, während er Hände schüttelte – in einer Straße, in der zum Teil noch der Schutt herumlag und die Geschäfte noch keine neuen Fensterscheiben hatten.
Von den libanesischen Politikern hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt keiner auf der Straße blicken lassen. Dafür haben sie gute Gründe. Es ist das von ihnen geschaffene korrupte und inkompetente System, dass die Libanesen für das Explosions-Desaster verantwortlich machen.
Seitenhieb auf den Gastgeber
Macron erklärte mit einem Seitenhieb auf seinen Gastgeber, dass das libanesische Boot sinken werde, wenn es nicht ernsthafte politische und wirtschaftliche Reformen gebe. „Was wir hier brauchen ist politische Veränderung. Die Explosion sollte der Beginn einer neuen Ära sein“, sagte er.
Im staatlichen libanesischen Vakuum versuchte Marcon als Retter zu punkten. Nicht alle empfingen den Franzosen freundlich. Aber fast alle buhten Aoun, den Präsidenten des eigenen Landes, aus. Er hatte nichts zu bieten und seine Behörden werden für die fahrlässige Lagerung der Chemikalien verantwortlich gemacht, die zu der Katastrophe geführt hat.
Die einstige Kolonialmacht und Macron hatten wenigsten Hilfslieferungen und ein paar nette Worte zu bieten. Dass der fremde Staatschef zu glänzen suchte, während der eigene nur mit den Zähnen knirschen konnte, zeigt wie groß das Misstrauen vieler Libanesen gegen die eigenen Institutionen ist.
Dass niemand mehr im Libanon dem Staat traut, geht auf eine jahrelange Erfahrung der Menschen zurück, dass die politische Elite und die hohen Beamten einfach nur in ihre eigenen Taschen gewirtschaftet haben. Damit haben sie das Land schon vor der Corona-Krise ausgeraubt und wirtschaftlich in die Knie gezwungen.
Vertuschung staatlicher Fehler
Die Menschen trauen dem Staat auf keiner Ebene. Sie trauen ihm nicht zu, dass er die Ursache der Explosion wirklich untersucht. So sind wenige Tage nach der Explosion die Rufe nach einer unabhängigen ausländischen Untersuchungskommission laut geworden. Auch das ist das Ergebnis jahrelange Cover-Ups und Vertuschungen staatlicher Fehler. Jeder Libanese weiß, dass staatliche Stellen im Libanon selten zur Rechenschaft gezogen werden.
Nach der Explosion – Eine Familie in Beirut
Das geht soweit, dass die Libanesen fordern, dass internationale Hilfsgelder, die jetzt bereitgestellt werden, nicht über libanesische staatliche Stellen verteilt werden sollen. Sie fürchten auch hier wieder bestohlen zu werden. Dabei bräuchten sie gerade jetzt, bei diesem wahnsinnigen Ausmaß der Katastrophe, mehr denn je einen funktionierenden Staat.
Genau das ist ihr Dilemma. Sie wissen, dass die Probleme, unter denen sie leiden, nicht gelöst werden können von der gleichen korrupten Elite und einem konfessionellen System aus sich bereichernden Familienclans, die diese Probleme erst geschaffen haben.
Nachbarschaftskomitees und zivilgesellschaftliche Organisationen, die gerade beim Aufräumen und bei der Versorgung helfen, können aber bei der Megaaufgabe, Beirut wieder auf die Beine zu bringen, keinen Staat ersetzen.
Kein zentrales Krisenmanagement
Der aber erweist sich einmal mehr als Totalausfall. Es gibt kein zentrales Krisenmanagement. Es gibt nicht einmal zentrale Vermisstenlisten. Es ist das totale Scheitern des Staates, dass die Libanesen schon lange kennen, und das bei einer solchen Katastrophe verhängnisvoll ist.
In den Tagen nach der Explosion waren die Menschen auf sich selbst gestellt und es war herzzerreißend ihre Geschichten zu hören, wie sie von Krankenhaus zu Krankenhaus zogen, um ihrer Angehörigen zu finden oder am Eingang zum abgesperrten Hafen warteten. Stets mit der Hoffnung, doch durchgelassen zu werden, um selbst unter den Trümmern nach den Vermissten zu suchen.
Und selbst bei dem auf sich selbst gestellt sein, werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Wohnungen von bis zu 300.000 Menschen wurden zerstört und beschädigt. Dafür gibt es bisher keinerlei staatliche Hilfen. Die Leute müssen auf ihre privaten Vermögen zurückgreifen – zumindest, um zunächst das Nötigste zu reparieren.
Das Problem dabei: Die meisten Libanesen haben Dollar-Konten. Von dort dürfen sie nur eine begrenzte Summe abheben und bekommen nur zu einem absolut schlechten Wechselkurs libanesische Lira. Der Bankkurs zum Dollar sind 3500 libanesische Lira, der Wert auf dem Schwarzmarkt ist weit mehr als doppelt so hoch. Die Handwerker und das Material für die Reparaturen müssen sie aber zu Marktpreis bezahlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt