„Gleichstellung hilft gegen häusliche Gewalt“

Das Lagebild zu häuslicher Gewalt ist alarmierend, dabei deckt es nicht das Dunkelfeld ab, sagt Expertin Göpner. Bei der Prävention helfe, Abhängigkeiten in Beziehungen abzubauen

Die Zahlen sollten „jeden aufrütteln“, so Innenministerin Faeser (re.) bei der Vorstellung des Lagebilds mit Familienministerin Paus und BKA-Chef Münch (li.) am Dienstag Foto: Michael Kappeler/dpa

Interview Nicole Opitz

taz: Frau Göpner, gegenüber dem Jahr 2021 sind die Meldungen zur häuslichen Gewalt im vergangenen Jahr um 8,9 Prozent gestiegen. Haben Sie eine Vermutung, woran das liegen könnte?

Katharina Göpner: Man muss berücksichtigen, dass das das Hellfeld ist. Die Zahlen sind in den letzten Jahren mit leichten Schwankungen stetig gestiegen. Sie sind weiter viel zu hoch, aber eben begrenzt aussagekräftig darüber, wie viel Gewalt es gibt. Es gibt ein sehr großes Dunkelfeld. Dazu wird es eine neue Dunkelfeldforschung geben, die letzte ist schon alt. Aber aus der wissen wir, dass etwa jede vierte Frau häusliche Gewalt erlebt.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert Frauen dazu auf, Gewalt vermehrt zu melden. Wie schätzen Sie das ein?

Das ist eine wichtige Forderung, weil viele Betroffene sich schämen. Weil sie die Erfahrung machen, dass ihnen eine Mitschuld gegeben wird.

Können Sie denn nachvollziehen, dass manche Betroffenen keine Anzeige stellen?

Ja, dafür gibt es gute Gründe. Zum Beispiel, wenn die gewaltausübende Person der eigene Partner ist und man mit ihm gemeinsame Kinder hat. Eine Anzeige kann auch die Gewalt­situation eskalieren lassen. Und die Gerichtsprozesse dauern sehr lange und können retraumatisierend sein.

Das Lagebild zeigt, dass die Anzeigen zu sexualisierter Gewalt steigen. Warum ist die Anzeigenbereitschaft so hoch, obwohl mutmaßlichen Opfern oft nicht geglaubt wird, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen?

Die Reform des Sexualstrafrechts hat einiges verändert. Seit der Reform können Sachen angezeigt werden können, die vorher als nicht strafbar galten.

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn Betroffene Nein gesagt, aber sich nicht körperlich gewehrt haben. Wir haben außerdem eine kleine Abfrage gemacht bei unseren Beratungsstellen, als sich die Reform zum fünften Mal jährte: Da haben sie gesagt, dass #MeToo und die öffentliche Debatte ein Empowerment für Betroffene bieten.

Zudem kündigte Faeser an, dass Täter direkt nach dem ersten Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden sollen – falls nötig auch mit Fußfesseln.

Diese Wegweisungen gibt es ja schon. Das Problem ist eher, dass die Umsetzung nicht kontrolliert wird. Das muss besser kontrolliert werden.

Meldungen zu Gewalttaten innerhalb von Familien und Partnerschaften nehmen zu. Das zeigt das aktuelle Lagebild des Bundeskriminalamts zur häuslichen Gewalt, das am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. 2022 wurden 230.946 Fälle angezeigt, im Vorjahr waren es 212.167. Das ist ein Anstieg um 8,9 Prozent. Die Zahl der Opfer stieg im Vergleich zu 2021 um 9,1 Prozent. Vier von fünf Betroffenen sind Frauen und etwa die Hälfte der Betroffenen häuslicher Gewalt lebt mit der tatverdächtigen Person zusammen.

Das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen erreichen Sie unter 116-016 und unter hilfetelefon.de, das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer unter 0800-1239900.

Sie haben die Dunkelfeldstudie schon angesprochen, die Anhaltspunkte geben soll, welche Maßnahmen umgesetzt werden. Gibt es Mittel, die schon jetzt von der Politik ergriffen werden sollten?

Was wir immer wieder fordern: Die Istanbul-Konvention muss umgesetzt werden. In Deutschland ist sie ratifiziert, aber es hapert an einigen Stellen. Wir brauchen einen Ausbau von Beratungsstellen, es muss mehr Geld in Unterstützungssysteme fließen. Die Istanbul-Konvention gibt auch noch andere sehr gute Empfehlungen, zum Beispiel bei Hochrisikofällen.

Woran ist ein Hochrisikofall zu erkennen?

Das sind Fälle, in denen der Täter zum Beispiel Waffen besitzt oder es schon vorher zu Gewalt kam. Sie enden noch viel zu oft in Femiziden. Hier müssen Institutionen besser arbeiten, um gemeinsam mit betroffenen Personen einen Plan zu machen. Wobei wir sagen, dass alle Fälle von partnerschaftlicher Gewalt Hochrisikofälle werden können.

Foto: privat

Katharina Göpner ist Geschäftsführerin beim Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) Frauen gegen Gewalt e. V. Dazu gehören etwa 210 Frauen­notrufe- und -Frauen­beratungs­stellen.

Nun haben wir viel über Maßnahmen gesprochen, die greifen, wenn die Gewalt schon passiert ist. Haben Sie Ideen, wie häusliche Gewalt effizienter verhindert werden könnte?

Es braucht mehr Präventionsprojekte und Projekte, die sich mehr mit Männlichkeit beschäftigen. Es braucht mehr Kampagnen, die potenziell gewaltausübende Personen adressieren. Letztendlich sind alle Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung sinnvoll. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Gleichstellung und geschlechtsspezifischer Gewalt. Das klingt jetzt sehr abstrakt …

was wäre denn ein gutes Beispiel dafür?

Es ist schwer für Frauen, gewaltvolle Situationen zu verlassen, wenn sie finanziell vom Täter abhängig sind. Ein anderer großer Handlungsbedarf ist das Sorge- und Umgangsrecht: Häusliche Gewalt sollte sich darauf auswirken. Das geschieht im Moment nicht. Da haben wir viel zu tun.

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