Expertin über Nato-Position zu Ukraine: „2008 darf sich nicht wiederholen“
Beim Nato-Gipfel in Vilnius muss die Ukraine Sicherheitsgarantien erhalten, sagt Osteuroa-Expertin Marie Dumoulin. Alles andere würde Putin stärken.
taz: Frau Dumoulin, vieles im Zusammenhang mit dem gescheiterten Wagner-Aufstand vor anderthalb Wochen liegt noch immer im Dunkeln. Welche Folgen sind für Russland und Präsident Wladimir Putin jetzt schon absehbar?
Marie Dumoulin: Bislang gründete Putins Regierungssystem darauf, verschiedene Gruppen wie die Sicherheitsdienste, die Armee sowie Privatarmeen wie Wagner gegeneinander auszuspielen. Das funktioniert nicht mehr. Wenn bei Spannungen zwischen diesen Gruppen nicht mehr vermittelt wird, kann das schnell gefährlich werden. Und das haben wir gesehen.
In den vergangenen Tagen sucht Putin die Öffentlichkeit wie seit Jahren nicht.
Dieses Kommunikationsbedürfnis, verbunden mit der Botschaft, Putin habe das Land vor einem Blutbad bewahrt – was die Ereignisse dramatisiert –, ist in der Tat auffällig. Putins Diskurs, um seine Macht zu legitimieren, hat sich gewandelt. Seit seinem Amtsantritt hieß es immer, Putin habe die Ordnung im Land nach den chaotischen 90er Jahren wieder hergestellt. Jetzt hören wir: Unser Land und unser Staat werden bedroht und Putin ist angesichts dieser Bedrohungen der Garant für Sicherheit.
ist promovierte Politikwissenschaftlerin mit dem Arbeitsschwerpunkt Russland und Osteuropa. Sie ist bei der Denkfabrik „Europäischer Rat für Auswärtige Beziehungen“ (ECFR) tätig. Dort leitet sie das Programm „Wider Europe“, dessen Schwerpunkt auf den postsowjetischen Staaten, dem Westbalkan und der Türkei liegt.
Angeblich will der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko den Deal mit Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ausgehandelt haben. Glauben Sie an diese Version?
Diese Erzählung kommt allen zupass: Putin kann sagen, er sei nicht bereit gewesen, mit einem Verräter zu verhandeln. Prigoschin musste nicht mit irgendwelchen untergeordneten Leuten im Verteidigungsministerium sprechen. Da sieht es doch besser aus, mit einem Staatschef in Kontakt zu treten, auch wenn es nur der von Belarus ist. Es ging für Prigoschin darum, sein Gesicht zu wahren.
Und Lukaschenko?
Ich glaube nicht daran, dass er verhandelt hat. Das hat sich wohl eher auf der Ebene der belarussischen Sicherheitsdienste abgespielt, die gute Kontakte zu ihren russischen Kollegen haben.
Was könnte das alles für den Krieg in der Ukraine bedeuten?
In diesem Stadium sehe ich keine direkten Auswirkungen. Viel wird davon abhängen, ob die Wagner-Truppen in die russische Armee eingegliedert werden und am Kriegsgeschehen beteiligt bleiben. Die Truppenstärke bliebe erhalten, die Kommandokette würde sich jedoch vereinfachen.
In westlichen Medien ist viel Kritik an der ukrainischen Gegenoffensive zu lesen: zu langsam, zu wenig sichtbare Erfolge. Sehen Sie die Gefahr, dass die Unterstützung der Partner der Ukraine bröckeln könnte, vor allem im Militärischen?
Natürlich steht Kyjiw unter Druck. Und wer wüsste besser als die Ukrainer, wie viel von dieser Gegenoffensive abhängt. In der westlichen Öffentlichkeit denken viele, dass sich das Szenario von Charkiw und Cherson wiederholen werde …
… eine rasche Rückeroberung also …
… doch die militärischen Gegebenheiten haben sich stark verändert, beispielsweise sind die russischen Verteidigungslinien viel solider, als sie es in Charkiw waren. Kyjiw jetzt nicht weiter militärisch zu unterstützen, wäre das Absurdeste überhaupt. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat vor Kurzem gesagt, man sei ja nicht in einem Hollywoodfilm. Das trifft es genau. Es herrscht Krieg, und dessen Rhythmus richtet sich nicht nach der Aktualität und medialen Erwartungen.
Apropos Kriegsmüdigkeit und kontroverse Debatten über weitere Waffenlieferungen an die Ukraine: Wie stellt sich die Lage in Frankreich dar?
Eine neue Umfrage des Euro-Barometers zeigt, dass eine große Mehrheit für eine weitere Unterstützung der Ukraine ist – vergleichbar mit den Werten in den drei baltischen Staaten. Das New Europe Center, eine ukrainische Denkfabrik, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Über die Notwendigkeit verstärkter diplomatischer Bemühungen, um zu Friedensverhandlungen zu kommen, ist zumindest von Präsident Emmanuel Macron nichts mehr zu hören.
Die führenden Politiker in Frankreich sagen klar und deutlich, dass jetzt Bedingungen für Friedensverhandlungen nicht gegeben sind. Und es an der Ukraine sei zu sagen, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Grundsätzlich sind Stellungnahmen von Politikern zum Krieg in der Ukraine eher selten. Das Thema Außenpolitik ist in französischen Debatten ohnehin wenig präsent. Dazu kommt, dass Politiker, die traditionell eher Russland nahe standen, mittlerweile zu Moskau auf Distanz gegangen sind.
Was ist vom anstehenden Nato-Gipfel in Litauen in Bezug auf die Ukraine zu erwarten?
Eine Wiederholung der Botschaft von 2008 in Bukarest darf es nicht geben.
Damals wurde der Ukraine eine klare Nato-Beitrittsperspektive versagt – aus Rücksicht auf Russland.
Sollte das passieren, würden sowohl die Ukraine als auch die Nato geschwächt. Darüber hinaus muss es Entscheidungen über Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben. Das wäre auch ein wichtiges Signal an Russland, denn Putin setzt immer noch darauf, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine nachlässt.
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