Experte über historische Tonaufnahmen: „Das sind Dokumente des Alltags“
US-Musikethnologe Radano hat historische Tonaufnahmen aus Afrika im Phonographischen Archiv Berlin untersucht – mit erstaunlichem Ergebnis.
taz: Herr Radano, Sie haben frühe Tonaufnahmen aus dem Phonographischen Archiv in Berlin untersucht, etwa solche der deutschen Frobenius-Expedition, die 1906 etwa auf dem Gebiet des heutigen Togo gemacht wurden. Was hörten Sie da?
Ronald Radano: Sofort aufgefallen ist mir, dass etwas Bemerkenswertes hörbar gemacht wird, aber gleichzeitig von bescheidener Klangqualität ist. Tontechnik war 1906 nicht sehr entwickelt, man hört starkes Rauschen. Dennoch verblüfft es, dass wir den Song „Loango“ von Joseph Tsikoya erkennen; Zeugnis eines afrikanischen Sounds, der mehr als 100 Jahre alt ist. Die Musik klingt kohärent und hat Wiedererkennungswert.
Bei „Loango“ von Joseph Tsikoya können wir Trommeln hören und repetitiven Gesang. Was sagen Ihnen diese Aufnahmen heute?
Zu einem gewissen Grad können wir davon ausgehen, dass sie uns ethnografisch produzierten Realismus liefern, durch den es uns möglich ist, zurück in der Zeit zu gehen, um einen Moment afrikanischer Musik in ihrer ganzen stilistischen Bandbreite wahrzunehmen. Vorsicht ist geboten, da die Aufnahmen als Konsequenz des deutschen Engagements in Afrika hergestellt wurden. Außerdem ist das Zustandekommen der Aufnahmen fragwürdig. Denn die Performer mussten sich extra vor das Mikrofon aufstellen, damit sie aufgezeichnet werden konnten. Streng genommen sind das also künstlich produzierte soziale Kontexte. Dennoch dokumentieren sie Alltagsleben in Afrika 1906, das im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte der Deutschen steht.
In Ihrem Essay „Hot Fantasies: American Modernism and the Idea of Black Rhythm“ machen Sie sich Gedanken zu einem Widerspruch: die behauptete Überlegenheit der sogenannten weißen Rasse und die andauernde Faszination derselben für die Melodien und Rhythmen der Schwarzen. Deutsche Kolonialgeschichte in Afrika und die Geschichte der USA lassen sich zwar nicht deckungsgleich bringen, aber diesen Widerspruch gibt es hier wie dort, oder?
„Hot rhythms“, so hat man in den USA in den 1920ern Jazz genannt, waren spezifisch für US Black Music und die Geschichte der Afroamerikaner. Trotzdem gibt es im Komplex der Kolonialgeschichte „racial imagination“, sie verschmilzt afroamerikanische, afrikanische, karibische und südamerikanische musikalische Praxen, die Musik all jener Menschen, die phänotypisch als „Neger“ bezeichnet wurden. Obwohl die musikalischen Praxen in Afrika und in den USA unterschiedlich waren, gibt es eine Gemeinsamkeit, denn die herrschende Meinung war damals, dass rhythmische Praxen mit der sogenannten Rasse in Verbindung stehen. Rhythmen und Trommeln haben auch die Forschung in ihren Bann gezogen. Der österreichische Musikethnologe Erich von Hornbostel, der 1905 Direktor des Phonographischen Archivs wurde, war besonders an afrikanischen Trommelpraktiken interessiert. Er behauptete, dass es eine klare Unterscheidung zwischen afrikanischer und europäischer Musik gäbe.
Sie zitieren in dem Aufsatz auch Hegel, der einen „Barbarismus im universellen Rhythmus Afrikas“ zu hören glaubte. Wie kam diese einseitige Vorstellungswelt von Afrika zustande?
Hegel stellte Afrika als Ort ohne Geschichte dar, als Bodensatz der Menschheit. Er hat dies aber nicht weiter ausgeführt, etwa in der „Philosophie des Geistes“, obwohl Geschichte ein wesentlicher Bestandteil davon ist. Bei ihm ist Afrika ein Nichts und der Rhythmus ist Teil dieser Gleichung.
ist Professor für Afrikanistik und Musikwissenschaften an der Universität Wisconsin in Madison und Autor u. a. von „Lying up a Nation: Race and Black Music“ (2003). Momentan ist er als Stipendiat der American Academy in Berlin-Wannsee.
Am 6. Juni spricht Radano um 19 Uhr mit der US-Anthropologin Rosalind C. Morris und den beiden südafrikanischen Künstlern Philip Miller und Thuthuka Sibisi über deren zusammen mit William Kentridge entstandene Multimedia-Performance „The Head and the Load“ im Haus der Kulturen der Welt Berlin. Darin geht es um die in Vergessenheit geratene Beteiligung von afrikanischen Soldaten am Ersten Weltkrieg.
Es gibt aus den 1910ern nicht nur Feldaufnahmen aus Afrika im Phonographischen Archiv, sondern auch solche anderen Ursprungs, was wissen Sie über diese?
Es gibt Studioaufnahmen, die erst in Berlin entstanden sind. Man hat Afrikaner aufgenommen, die zuvor mit Ethnografen nach Berlin gekommen waren. Das geschah im Labor des Psychologen und Musikforschers Carl Stumpf. Die anderen Aufnahmen sind klassische field recordings, sie wurden auf Forschungsreisen in Afrika von Ethnografen und Ethnologen getätigt, aber auch von Offizieren.
Warum führen Sie in Zusammenhang mit den Aufnahmen aus Afrika „das Unheimliche“ an, einen Begriff, der auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts, etwa bei E.T.A. Hoffmann, von Bedeutung ist?
Interessanterweise spielt der Begriff auch in Carl Stumpfs Studie „Die Anfänge der Musik“ (1911) eine Rolle. Stumpf untersucht darin, wann man formal vom Beginn der Musik sprechen kann, und er verwendet einen Begriff, der zur selben Zeit auch von Sigmund Freud ins Feld geführt wird, um eine Eigenschaft zu erklären, die verstörend ist; das Unheimliche stellt sich Freud pervers und zugleich attraktiv vor. Ich frage mich dennoch, warum Stumpf diesen Begriff verwendet, mit dem Hintergrund der romantischen Literatur, den Sie erwähnt haben, um ein Gefühl der Düsternis und eine Ahnung von Gefahr in der Musik zu beschreiben, um diesen Sound aus Afrika von anderen Klängen zu unterscheiden. Stumpf galt ja als Positivist. Gut möglich, dass, wenn wir die Geschichte der afrikanischen Musik fortschreiben, wir also davon ausgehen müssen, dass sie schon damals Teil des europäischen Musikschaffens gewesen ist. Und zwar war afrikanische Musik nicht nur Forschungsgegenstand im Klanglabor des Carl Stumpf, sondern in einem größeren Kontext auch als Teil der Black Music in den USA, sowohl auf den ersten kommerziell erhältlichen Schallplatten als auch auf den Konzertbühnen. Sie war Teil der Black-Face-Minstrel-Kultur, also von weißen Musikern, die sich ihre Gesichter schwarz anmalten und damit eine lächerliche und absurde Form schufen, von der sie glaubten, dass die Musik der Sklaven so klang und so aussah.
Durch den Sklavenhandel waren die USA, Europa und Afrika über Jahrhunderte miteinander verbunden. Wie lebendig ist diese Geschichte in Ihrer täglichen Arbeit als Wissenschaftler?
Als Musikethnologe stehe ich im Austausch mit KollegInnen aus Afrika und anderen Teilen der Welt. Wenn ich nun einen Workshop in Berlin gebe, kommen auch Museumsleiter aus Afrika. An meiner Universität in Wisconsin, wo ich im Fach Afrikanistik arbeite, studieren viele StudentInnen aus allen Teilen Afrikas. Ich bin also nicht im Elfenbeinturm. Diese Feldaufnahmen in Afrika sind nicht so ein Hot Topic wie die Karriere von geraubten Kulturgütern, die in Europa für Kontroversen sorgen. Jahrzehnte haben sie in der Phonographischen Sammlung in Dahlem Staub angesetzt. Ich glaube, erst mit der Verbringung ins Humboldt Forum werden sie wieder lebendig.
Können die historischen Aufnahmen also die Debatte zwischen Afrika, Europa und den USA beleben?
Das wäre mein größter Wunsch. Ich hoffe sogar, dass diese Aufnahmen für Ärger sorgen. Das sage ich jetzt nicht, um Öl ins Feuer zu gießen. Ihre bloße Existenz bringt die Debatte tatsächlich weiter. Denn die Aufnahmen repräsentieren einen Klang vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Gepaart mit der Geschichte der Black Music in den USA werden damit neue Fragen aufgeworfen: Was folgt aus unserem Musikverständnis, wenn die Idee von „afrikanischer Musik“ schon Anfang des 20. Jahrhunderts im öffentlichen Bewusstsein in Berlin verankert war? Mein Gespür sagt mir, dass alte Kategorisierungen von Musik dadurch über den Haufen geworfen werden und es somit zu einem neuen Wettbewerb zwischen Black Music und der Ernsten Musik kommt. Dieser Wettstreit ist grundlegend für eine Modernisierung von Musik. Es gibt im Fach Musikwissenschaft, aber auch im Feuilleton die Tendenz, zwischen den unterschiedlichen Musikformen Demarkationslinien zu ziehen, obwohl alles mit allem zu tun hat. Ich bin der Ansicht, dass die Feldaufnahmen aus Afrika das Potenzial haben, mit den Werken etwa eines Gustav Mahler oder eines Max Reger zu sprechen. Deutschland hat ein großes musikalisches Erbe. Es muss nun neu bewertet werden, da es bereits Anfang des 20. Jahrhundert direkt mit einer auch für uns hörbaren Afrikanistik konfrontiert war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos