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Exklusive Kurzgeschichte zum FestUnd Mila tanzt

Auch in Zukunft wird es Weihnachten mit den Großeltern geben. Doch es könnte das letzte Mal sein. Eine schaurige Weihnachtsgeschichte.

Pflegeroboter Pepper im Jahr 2019. Möchte er tanzen? Foto: Murat Tueremis/laif

Am Morgen des 23. Dezember sieht Mila über die gelb gepflasterten Weiten vor den Toren Brandenburgs. Sie hält Ausschau nach der Oma. Von Norden her soll sie kommen, so hat die Mutter es gestern wieder gesagt, aus Perleberg oder Neuruppin.

Dort hatte sie Süßigkeiten in Stiefeln versteckt, zum Nikolausfest, und dann musste sie sich erholen, natürlich, in ihrem Alter ging das gar nicht anders. Nun aber sei die Oma auf dem Weg, zu ihrer Stadt: extra zu Weihnachten, was für eine Ehre, das erste Mal seit zwanzig Jahren. Die Mutter hat geklungen, als gäbe es nichts Schöneres.

Sie ist damit nicht alleine. Auch die anderen in der Stadt reden so. Alle. Nur Mila nicht. Sie ist sieben, ihr ist egal, was vor zwanzig Jahren war. Ihr geht es um morgen. Seit sie das erste Mal vom Kommen der Oma gehört hat, vor genau zwei Wochen, fühlt sie ein hartes Pochen in sich, als liefe Strom in starken Stößen durch sie hindurch. Das erste Pulsen kommt immer tief aus ihrem Inneren, aus ihrer Mitte, es ist sanft, zärtlich fast.

Dann breitet es sich wellenförmig in ihr aus, über Brustkorb, Arme, Oberschenkel, bis es eine Millisekunde später schmerzhaft in die Spitzen von Zehen und Fingern fährt. Und dann wieder von vorn. Mila ist wütend. Das sollte vollkommen unmöglich sein, so ist sie eigentlich nicht gemacht, das hat die Mutter gesagt, nachdem Mila sie angeschrien hat, aber Mila ist seit zwei Wochen wütend, das steht fest. Wenn die Oma nicht wäre, würde Mila dieses Weihnachten tanzen.

Schlechte Reime

Sie hat alles gelernt. Die Schritte. Die Sprünge. Die Pirouetten mit dem Band. Sogar die ganze langweilige Geschichte des Tanzes. Hunderte der alten Filme hat sie sich angesehen, über die Altenheime des 21. Jahrhunderts, in denen die Pfle­ge­r:in­nen ihren Schützlingen während der Krankheit das Masketragen und das Abstandhalten beibrachten. Bei denen, die sich kaum noch etwas merken konnten und die wöchentlich, täglich alles wieder vergaßen, funktionierte das Einprägen viel besser mit immer wiederkehrenden Bewegungen und mit einem Lied.

Ein öder Text mit schlechten Reimen, erdacht von Beschäftigungstherapeut:innen, aber leicht zu merken: „Nur ein Meter reicht uns nicht aus, komm, wir machen anderthalbe draus. So weit kann das Virus nicht fliegen, und am Ende werden wir siegen.“ Brüchige Stimmen und kräftige, manche trafen die Töne, die meisten nicht, die endlosen Schleifen, Mila hat sie sich alle angehört.

Es weht kein Wind heute am Vorabend der Weihnacht. Schnee fällt in dichten Flocken. Sie setzen sich in Milas Haare, auf ihre bloßen Arme, ihre flachen schwarzen Schuhe. Auf ihrem weißen Kittel verschwinden sie, werden aufgesogen von der Farbe und dem Stoff. Mila kann von hier oben weit gucken, sie ist extra hierher gegangen, zur höchsten Stelle der Sicherheitsmauer, über dem einzigen Zugang zur Stadt. Noch immer ist niemand zu sehen.

Wie Puderzucker auf einen frischen Eierkuchen legt sich der Schnee über das Gelb der gepflasterten Felder. Die Farbe ihrer Steine symbolisiert das reife Getreide, das hier früher wuchs, sie hat all die Namen gelernt: Weizen, Roggen, Gerste, Hafer. Alte Menschen lieben es, über die Tiere und Pflanzen ihrer Kindheit zu reden, das hatten ihnen die Mütter früh beigebracht.

Mila hebt das rechte Bein, bis das Knie auf der Höhe ihrer Hüfte ist, dann drückt sie Ferse und Fußballen des linken Fußes nach oben, bis sie nur noch auf fünf Zehen steht. Sie senkt den Fuß wieder. Dann drückt sie ihn wieder nach oben, mit aller Kraft, sie schnellt in die Luft, einen Meter über den Zinnen der Mauer dreht sie sich einmal ganz um sich selbst und landet auf ihren Zehenspitzen. Kein Wackeln, kein Zittern. Welcher Mensch könnte es ihr gleichtun?

Einmal vor, einmal zurück

Sie spürt das Pulsen ihrer Wut. Es wird nicht schwächer, aber auch nicht stärker. Mila hat einen Plan.

Am Anfang hatte es in den Heimen zum Abstandslied nur eine einfache Schrittfolge gegeben, einmal vor, einmal zurück, eine langsame Drehung, viel mehr war von den greisen Tän­ze­r:in­nen nicht zu erwarten gewesen, jedenfalls nicht die akrobatischen Vorführungen von heute.

In manchen Heimen hatten die Be­treue­r:in­nen den Alten Maßbänder für den Tanz gegeben, damit sie die anderthalb Meter sowohl in den Händen als auch vor Augen hatten, sicher ist schließlich sicher. Mila hat sich für ihren ersten Tanz in einer der automatischen Werkstätten sogar ein Maßband für Schnei­de­r:in­nen aus der Ursprungszeit nachmachen lassen, beschichtetes Leinen, die eine Seite rot gefärbt, die andere gelb. Manche der Mütter standen auf dieses alte Zeug, sie konnten wahrscheinlich nichts dafür, so waren sie eben gemacht.

Jetzt kommt jemand, weit hinten am Horizont. Zwei Wagen in Rot und Weiß. Ohne Blaulicht, sie fahren also langsam. Sie würden trotzdem bald hier sein. Die Oma würde bald hier sein. Mila ist bereit.

In den Datenbanken hatte sie unterschiedliche Angaben darüber gefunden, wann und wie der Tanz zum ersten Mal zu Weihnachten aufgeführt worden war. Aus Tagen nach dem ersten Sieg über die Krankheit gab es Filmaufnahmen, in denen Po­li­ti­ke­r:in­nen in die Hände klatschten, während alte Menschen den Abstandstanz neben geschmückten Weihnachtsbäumen aufführten.

Die Pfleger:innen, damals alles noch Menschen, klatschten ebenso, manche weinten, ihre Tränen glitzerten im Licht wie die bunten Kugeln an den Nadelzweigen. Vom zweiten Sieg gab es solche Videos wieder und dann vom dritten und von allen folgenden Siegen auch, es wurden jedes Mal mehr. So entstehen Traditionen.

Der Mensch im Mittelpunkt

Noch einen Kilometer, vielleicht zwei. Die Wagen fahren versetzt. Im vorderen liegt die Oma, begleitet von sechs Pfleger:innen. Im hinteren sitzen weitere acht. Nur für den Fall, dass etwas passiert.

Mila hat mit der Mutter gestritten. Drei Mal. Du hast mir versprochen, dass ich tanzen darf! Sie hat es gesagt, sie hat es geschrien. Ihr alle habt es versprochen! Sie war auserkoren worden, weil sie die Jüngste ist. Die Einzige der neuen Generation hier in der Stadt. Es werden kaum noch neue Pfle­ge­r:in­nen gemacht. Für wen auch.

Die Mutter hat sie mit großen Augen angesehen. Sie versteht Mila nicht, das hat sie noch nie. Erst der Mensch, dann die Maschine, so klar ist die Regel, so einfach zu lernen, so leicht zu befolgen.

Beim vierten Gespräch hat Mila die Gehorsame gespielt. Warum kann die Oma nicht zuerst tanzen und dann ich, hat sie gefragt, ganz ruhig, ganz brav. Sie hat sich nach hinten gesetzt, wie es sich gehört, an die zweite Stelle. Aber die Mutter hat das alte Leitbild zitiert: „Bei uns steht der Mensch immer im Mittelpunkt.“ Immer. Die Mutter hat gesagt: Wenn die Oma kommt, kümmern wir uns um sie. Dafür sind wir gemacht.

Daniel Schulz

Daniel Schulz leitet das Ressort Reportage & Recherche der taz. Am 24. Januar erscheint sein Roman „Wir waren wie Brüder“ im Hanser Verlag.

Danach war das Pochen in Mila so stark, dass sie dachte, sie würde zerspringen. Sie ist davongerannt, zu den jüngeren Müttern. Die verstehen sie wenigstens ein bisschen, eine hat sogar mal einen Witz über das Leitbild gemacht. Aber dieses Mal haben sie nur vertröstet: Warte aufs nächste Jahr. So schnell sehen wir keine Oma mehr.

Aber Mila will nicht warten. Sie springt höher und dreht sich schneller als selbst die Beste der Mütter. Sie wird nicht dastehen und verzückt den Mund aufreißen, weil ein Mensch durch den Festsaal wackelt wie eine kaputte Puppe.

Die Wagen halten an, dreißig Meter vor der Mauer. Die Hintertüren des ersten werden geöffnet, zwei Pfle­ge­r:in­nen in weißen Kitteln springen heraus, Mila sieht sie an etwas ziehen, sie hört ein metallisches Ratschen, Stimmen, Gelächter. Aus dem zweiten Auto steigt noch niemand.

Unter Mila, am Tor, versammeln sie sich jetzt, um die Oma zu begrüßen. Einige singen: „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn’ ich dir? Oh aller Welt Verlangen, oh meiner Seele Zier.“

Sollte sie nicht etwas fühlen?

Mila guckt weiter nur zu den beiden Wagen.

In der Stadt hätte sie nichts tun können. Die Oma wäre niemals allein, das hört sie seit zwei Wochen in jedem Gespräch. Alles ist auf Sicherheit gebaut, rutschfeste Rampen, trittfester Stein, jede Ecke abgerundet, jeder Meter geprüft. Nur draußen ist es anders. Das ist Milas Chance.

Sie sieht die Oma jetzt. Die alte Frau geht gar nicht so langsam, wie Mila sich das vorgestellt hat. Kleine, aber feste Schritte zwischen den Pfleger:innen. Mila dachte, sie würde gebeugt laufen, gekrümmt wie die Bäume im Stadtgarten, aber sie hält sich aufrecht in ihrem roten Mantel. Zehn Meter vor der Mauer bleibt die Gruppe stehen. Die Oma hebt den Kopf. Mila sieht das Gesicht unter der Kapuze, ein breites Gesicht, ein kantiges Kinn, eine fleischige Nase und braune Augen. Der Blick trifft den von Mila und verharrt. Mila starrt zurück. Sollte sie nicht etwas fühlen? Ist sie nicht dafür gemacht?

Die Oma senkt den Kopf und läuft los. Die letzten Meter geht sie allein, auch das ist eine Tradition, Mila hat nicht nachgesehen, wer die erfunden hat. Ihre Augen folgen Omas Schritten.

Dafür dass in der Stadt auf so vieles geachtet wird, interessiert sich kaum jemand für das, was vor der Mauer passiert. Mila konnte hier ein bisschen polieren und da etwas schleifen, einen Stein locker machen oder auch zwei, niemandem stieß das auf. Sie war allerdings auch nie zu lange draußen, immer nur ein paar Minuten am Stück, eine Viertelstunde maximal, sie verhielt sich klug.

Als die Oma wegrutscht, schließt sie zu ihrer eigenen Überraschung die Augen. Den Schrei hört sie natürlich trotzdem. Mila wird tanzen.

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