Ex-Obdachlose über Obdachlosigkeit: „Obdachlose haben keinen Feierabend“
Janita-Marja Juvonen hat selbst 14 Jahre lang auf der Straße gelebt. In ihrem Buch „Die Anderen“ beschreibt sie die Realität der Obdachlosigkeit.
taz: Janita-Marja Juvonen, welches Klischee über wohnungslose Menschen wollen Sie nie wieder hören?
Janita-Marja Juvonen: Obdachlose Menschen seien faul. Das ist die erste Sache, die man sich auf der Straße eben nicht leisten kann. Es gibt keinen Feierabend, keinen Urlaub, kein Wochenende. Ich konnte mich von meiner Obdachlosenzeit nicht krankmelden.
Wieso werden wohnungslose Menschen immer so abgewertet?
Das hat mit eigenen Ängsten und Hochmut zu tun. Man möchte dem Glauben erliegen: „Das passiert mir nicht, nur faulen Menschen und Schulabbrechern.“ Menschen auf der Straße leisten nichts, was die Gesellschaft als Leistung wahrnimmt. Arbeit ist nur Arbeit, wenn man einen Lohn dafür bekommt.
Was war Ihre Überlebensstrategie als Frau?
Möglichst unweiblich rüberkommen. Ich bin irgendwann auch sehr laut geworden. Menschen, die aggressiv erscheinen, nähert sich keiner. Du hast zum einen Privatsphäre und es schützt ein bisschen vor sexuellen Übergriffen.
Sozialaktivistin, Autorin und Expertin zum Thema Obdachlosigkeit. Ihr Buch „Die Anderen“ ist 2023 bei Voima erschienen (216 S., 29,80 Euro; E-Book 14,99 Euro).
Von wem drohten diese Übergriffe?
Ich finde es faszinierend, dass das obdachlosen Männern so oft nachgesagt wird. Außer einmal waren es alles Männer mit Wohnung. Viele davon sind der Meinung, sie tun dir was Gutes, indem sie dich beachten oder dir im Gegenzug einen Schlafplatz anbieten. Ich habe unter einer Brücke mit fünf Männern zusammengelebt, da habe ich nicht einen Übergriff erlebt. Im Gegenteil, die haben mich immer geschützt.
Auf der Straße nannte man Sie „JJ“. Was tragen Sie davon noch in sich?
Mir fällt es leicht zu reagieren, wenn sich Situationen ganz plötzlich ändern. Ich gehe sofort in einen Überlebensmodus. Auf der Straße hat sich mein Leben innerhalb von einer Sekunde geändert.
Was hat Ihnen damals so gar nicht geholfen?
Kaffee! Und Weihnachtskekse. Ich werde bis an mein Lebensende keine Weihnachtskekse mehr essen. Menschen mit Wohnung bringen sehr gerne das, worüber sie sich selbst freuen würden. Mit 22 Kaffee ist mir aber nicht geholfen. Wenn ein Mensch ohne Wohnung das ablehnt, dann ist das sein gutes Recht. Es gibt aber Menschen, die dann der Meinung sind: „Ich helfe denen nie wieder!“ Deswegen: fragen, was gerade gebraucht wird.
Was tun Sie, wenn Sie heute obdachlose Menschen treffen?
Ich unterhalte mich, weil ich von mir selbst weiß, dass mir Gespräche, die nichts mit meiner Lebenssituation zu tun haben, auf der Straße gefehlt haben.
Was ist die größte Hürde, um aus der Obdachlosigkeit zu kommen?
Immer wieder gegen Mauern zu rennen. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich meine wenige Energie auf der Straße brauche, und habe dann einfach aufgegeben. Die größte Hürde ist bis heute aber Diskriminierung, unter anderem beim Wohnungsmarkt. Da kann man Geld vom Jobcenter bekommen, wie man will: Wenn man keine Wohnung bekommt, ist man wohnungslos.
„Die Anderen. Die harte Realität der Obdachlosigkeit“: Lesung am 6. 2., 19 Uhr, Kukoon, Buntentorsteinweg 29–31, Bremen
Was soll die wohnende Bevölkerung durch Ihre Aufklärungsarbeit begreifen?
Anfangs habe ich viele TV-Anfragen abgelehnt. Menschen würden einfach nur gucken, wie elendig mein Leben war, sich kurz aufregen und dann ist die Sache wieder gegessen. Einige Privatpersonen haben immer wieder diesen sozialromantischen Traum, durch Suppe verteilen beenden sie die Obdachlosigkeit in ihrer Stadt. Aber was Obdachlosigkeit beendet, ist eine Wohnung. Es ist Präventivarbeit, die Leute darauf aufmerksam zu machen: Das ist kein Eigenverschulden, dir kann es auch passieren, rechne damit! Reagiere nicht erst, wenn du auf der Straße sitzt.
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