Ex-Bundesverfassungsrichter zur Atompolitik: "Offensichtlich keine Rechtsgrundlage"
Hans-Jürgen Papier, Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hält ein Moratorium für Alt-AKWs nicht für juristisch wasserdicht – und Schadensersatzansprüche an die AKW-Betreiber für möglich.
taz: Herr Papier, die AKW-Betreiber bereiten Klagen gegen die vorübergehende Stilllegung der Altmeiler vor. Wie aussichtsreich sind solche Klagen?
Hans-Jürgen Papier: Ich sehe gute Erfolgsaussichten. Die Bundesregierung und die konkret handelnden Landesregierungen haben offensichtlich keine Rechtsgrundlage für das Moratorium. Statt eine Rechtsgrundlage zu schaffen - was möglich und naheliegend wäre -, nehmen sie sehenden Auges eine gerichtliche Niederlage in Kauf.
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) beruft sich auf Paragraf 19 des Atomgesetzes, der Maßnahmen der Atomaufsicht beschreibt.
Wenn eine Stilllegung auf diesen Paragrafen gestützt wird, müsste ein rechtswidriger Zustand oder eine akute Gefährdung vorliegen. Beides hat die Regierung bisher nicht einmal behauptet.
Röttgen beruft sich auf einen "Gefahrenverdacht". Genügt das nicht?
Darüber könnte man diskutieren, aber es liegt ja auch kein Gefahrenverdacht vor. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass deutsche AKWs im Moment eine konkrete Gefahr darstellen.
In Japan hat sich wider alle Annahmen das sogenannte Restrisiko verwirklicht. Muss da nicht neu nachgedacht werden?
Über die Sicherheitsanforderungen muss nach dieser Katastrophe unbedingt nachgedacht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat 1978 in seinem Kalkar-Urteil ja entschieden, dass die Gesellschaft als Restrisiko nur solche Risiken der Atomenergie hinzunehmen hat, die zwar theoretisch denkbar, aber nach den Maßstäben praktischer Vernunft doch ausgeschlossen sind. Diese Vorgabe macht auch heute noch Sinn, allerdings dürften sich nach Fukushima die Maßstäbe der praktischen Vernunft verschoben haben. Was früher als undenkbar galt, ist es heute vielleicht nicht mehr.
Rechtfertigt das keine vorübergehende Stilllegung von AKWs?
Wenn am Ende einer Neubewertung von Risiken herauskommt, dass wir bisher zu wenig Risikovorsorge betrieben haben, dann kann eine Nachrüstung der Atomkraftwerke gefordert werden, eventuell sogar ein Widerruf der Genehmigungen erfolgen. Wir sind aber erst am Beginn der Neubewertung. Um auch während einer solchen Neuorientierung AKWs vorübergehend stilllegen zu können, müsste der Gesetzgeber eine neue Rechtsgrundlage ins Atomgesetz einführen. Ich wundere mich, warum die Bundesregierung diesen rechtsstaatlich gebotenen Weg nicht geht.
Ist es nicht Aufgabe der Bundesregierung, sofort Handlungsfähigkeit zu demonstrieren?
Doch, aber das rechtfertigt natürlich keine illegalen Maßnahmen. Die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Änderung des Atomgesetzes hätte auch Handlungsfähigkeit demonstriert.
Muss der Staat den AKW-Betreibern nun Schadensersatz zahlen?
Zunächst müssen die Betreiber gegen die Stilllegungsverfügung klagen. Sie können nicht einfach drei Monate abwarten und am Ende ausrechnen, wie hoch ihr Verlust gewesen ist. Aber für die Zeit bis zu einer eventuellen Aufhebung der Stilllegungsverfügung könnten Ansprüche auf Schadensersatz bestehen.
Hat die Regierung vielleicht zu sehr erwartet, dass sich die Betreiber kooperativ zeigen und auf Klagen verzichten?
Möglicherweise. Es ist aber keine gute Strategie, rechtswidrig zu handeln und dann zu hoffen, dass die Betroffenen stillhalten. Insofern muss man den AKW-Betreibern sogar dankbar sein, wenn sie klagen. Das erhöht mittelfristig den Handlungsspielraum der Politik, weil sie gezwungen wird, ihre Ziele mit rechtmäßigen Mitteln zu verfolgen - was ja durchaus möglich ist.
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