Ex-Botschafter über Libyen-Konferenz: „Europa ist immer zu spät“

Libyens Ex-Botschafter in Deutschland blickt skeptisch auf die Berliner Libyen-Konferenz. Er vermisst wichtige Schritte, damit es Wahlen gibt.

„Ich wünsche mir, dass die Wahlen stattfinden“: Aly Masednah El-Kothany in Tobruk Foto: Mirco Keilberth

taz: Herr Masednah, wie würden Sie die aktuelle Lage in Libyen beschreiben?

Ali Masednah-Kothany: Deprimierend bis hoffnungslos. Das Land macht keinen Fortschritt in Richtung Demokratie. Die einzige positive Entwicklung ist das Ende des Bürgerkrieges. Wirtschaftlich geht es den Menschen immer schlechter.

Wie erklären Sie sich das?

, 74, war von August 2011 bis Ende 2012 Botschafter Libyens in Berlin. Der unter anderem in Heidelberg ausgebildete Arzt aus Tobruk praktizierte zuvor als Hausarzt im bayerischen Hof. Er lebt heute mit seiner Frau in Potsdam und fährt regelmäßig nach Libyen, wo er an Berufsausbildungsprojekten arbeitet

Die libysche Währung hat seit Jahresbeginn 700 Prozent an Wert verloren. Die Regierung von Premierminister Dbaiba hat viel versprochen, aber in kurzer Zeit hat er vor allem im Osten Vertrauen verspielt. Obwohl er Chef einer Einheitsregierung ist, hat er sich auf die Seite der Muslimbrüder, der Türkei und der westlibyschen Gruppen geschlagen.

Aber Dbaiba war in seiner kurzen Amtszeit mehr im Land unterwegs als sein Vorgänger Serraj in vier Jahren, unter anderem auch in Bengasi im Osten, wo Armeechef Khalifa Haftar noch das Sagen hat.

Die ostlibysche Regierung wurde aufgelöst, aber nicht in die Einheitsregierung integriert. Viele von Dbaibas 33 Ministern haben noch nicht mit der Arbeit begonnen, während die ehemaligen Angestellten der aufgelösten ostlibyschen Regierung für Nichtstun bezahlt werden. Dbaiba hat bisher zudem nicht den Abzug aller Söldner gefordert, also auch der türkischen Soldaten. Das haben wir bisher nur von Außenministerin Mangoush gehört.

Es besteht also ein Machtvakuum in Ostlibyen. Wird Haftar dies für sich nutzen?

Haftars Militär ist mit der Sicherung der Grenze zu Tschad und Niger und der Ölfelder beschäftigt. Aber die Gefahr der Spaltung des Landes besteht immer noch. Der Begriff „Regierung der Nationalen Einheit“ ist nur ein Slogan ohne Wirkung. Weite Teile Libyens sind unkontrolliert, die Bürger erleben ein Ausmaß an Kriminalität wie nie zuvor. Aber es gibt auch einige Fortschritte, zum Beispiel die Öffnung der Straße zwischen Misrata und Sirte, zwei ehemals verfeindeten Städten. Damit ist Libyens wichtigste Ost-Westverbindung nun befahrbar. Das hätte am ersten Amtstag Dbaibas geschehen müssen! Die Öffnung halten viele im Land für eine Banalität, sie fordern ernsthaften Fortschritt beim Wiederaufbau der Infrastruktur, damit es zum Beispiel keine tagelangen Stromausfälle mehr gibt.

Wird die zweite Berliner Libyen-Konferenz die Probleme anpacken?

Ich fürchte, die libyschen Delegationen kommen zwar physisch nach Berlin, aber werden nicht mit am Tisch sitzen. Die Konferenzteilnehmer müssen aber dafür einstehen, dass die ausländischen Truppen jeglicher Couleur das Land verlassen. Die Türken haben über 15.000 Syrer nach Libyen geholt und über viele keine Kontrolle mehr. Ich habe gehört, dass viele der Syrer nicht mehr bezahlt werden, so wie auch die Sudanesen und Tschader auf der anderen Seite. Alle ausländischen Truppen müssen abziehen, auch die Italiener in Misrata und die offizielle türkische Armee.

Das wurde ja im Vorfeld der Konferenz bereits gefordert.

Ja, aber die Europäer sind in Libyen immer zu spät, andere schaffen die Fakten. Ich bin gespannt ob man Erdogan gewähren lässt – er sagt ja, dass es ein offizielles Militärabkommen zwischen der libyschen Regierung und der Türkei gibt und die türkischen Militärberater nicht illegal im Land seien. Ich kritisiere zudem, dass die Europäer nicht ehrlich mit den Libyern kommunizieren. Die EU-Staaten haben nur ein gemeinsames Interesse in Libyen: Die Migranten aus Subsahara-Afrika in Libyen zu halten. Daher spricht man mit Militärs und Milizen. Die sieben Millionen Libyer und ihr Wunsch nach einem normalen Leben spielen eine zu geringe Rolle.

Aber vielleicht kann das tief gespaltene Land gar nicht alleine eine Lösung finden.

Das kann man so sehen. Aber wenn in Berlin der Abzug der Söldner beschlossen würde, könnten sich Dbaiba und seine Minister auf den Wiederaufbau konzentrieren, Schulen öffnen, die schlimme Corona-Lage in den Griff bekommen. Vor drei Tagen ist eine Frau in Sebha bei der Geburt ihres Kindes in einem Krankenhaus gestorben. Kein Pfleger oder Arzt traute sich abends in das Krankenhaus, wegen der Milizen abends in das Krankenhaus getraut.

Erklärt die Frustration, dass jemand wie Haftar sich trotz seiner militärischen Niederlage und seiner Polizeistaatmethoden immer noch halten kann?

Auch seine Kritiker, und das sind nicht wenige, halten ihm zugute, dass er die Islamisten aus Bengasi vertrieben hat. Aber nun muss es eine demokratisch gewählte Regierung geben, die alten Figuren bringen das Land nicht weiter.

Wären die für den Dezember geplanten Wahlen ein Ausweg?

Das ist die große Hoffnung vieler Libyer. Alle, die jetzt in Libyen regieren, haben keine Legitimation mehr. Wenn demokratisch gewählte Politiker eine ehrlich gemeinte Unterstützung aus Europa erhielten, würden wir recht schnell positive Veränderungen sehen.

Ist der Wahltermin im Dezember realistisch?

Ich wünsche mir, dass die Wahlen stattfinden. Das Land ist apathisch. Die Wahlen sind eine Vision, die Reformern Kraft gibt. Das wahllose Verteilen von Geld zementiert den Status Quo. Vielleicht gäbe die Dynamik rund um die Wahlen die richtige Orientierung. Diese unsichere Phase im Übergangsprozess von einer zentralistischen Familienherrschaft zur Demokratie wird sicher mehr als zwanzig Jahre dauern, aber die Weichenstellung findet jetzt statt.

2014 gab es schon einmal gut organisierte Parlamentswahlen. Die Nichtanerkennung der Ergebnisse durch Milizen endete in einem Krieg in Tripolis und der Flucht der Parlamentarier aus der Hauptstadt. Was, wenn sich dieses Szenario wiederholt?

Deswegen müssen die russischen Wagner-Truppen, die türkische Armee und alle anderen das Land verlassen. Danach sollte eine große unbewaffnete internationale Beobachtermission, eine zivile Mission unter UN-Leitung, den Waffenstillstand und die Wahlen überwachen. Auch nach den Wahlen müssen sie bleiben und im ganzen Land im Einsatz sein. Wahlen unter derzeitigen Bedingungen würden nicht die geringsten Standards erfüllen.

So wie in Hay Andalous in Tripolis, wo Milizen bei den letzten Lokalwahlen ein Wahllokal besetzten, und als sie wieder abzogen, waren die Wahlurnen voller Stimmzettel. Wie kann man das verhindern?

Mit dem Ende der finanziellen Unterstützung der Milizen durch die Ministerien. Die EU könnte zusammen mit der libyschen Regierung eine Kontrollkommission einsetzen, die Finanzströme überwacht. Auch Sanktionen gegen einzelne Personen würden helfen.

Wie kann man ein entstaatlichtes Gebiet, sieben Mal so groß wie Deutschland, wieder aufbauen?

Lokale Projekte sind der richtige Weg. Man muss den über 100 gewählten Gemeindeverwaltungen helfen, ihre Strukturen zu verbessern, den Bürgern zu dienen. Polizisten die Gesetze näherzubringen, wäre auch sinnvoll. Mit der GIZ verfolgt Deutschland hier schon einen richtigen Ansatz.

Sollte sich Deutschland stärker engagieren?

Viele Deutsche haben selbst die Erfahrungen von Flucht oder Diktatur gemacht. Wenn sie es nicht selbst erlebt haben, so haben die eigenen Großeltern ihnen davon erzählt. Ich erlebte als Botschafter daher viel Empathie, auch im politischen Bereich. Aber noch wichtiger ist, dass Deutschland niemals eine koloniale Macht im arabischen Raum war und als neutral angesehen wird. Wahlbeobachter aus Deutschland sind daher geradezu eine Notwendigkeit. Länder wie Frankreich oder Italien und die arabischen Staaten vertreten meist nur ihre eigenen Interessen. Ihnen geht es um Erdöl, Gas, Uran oder Absatzmärkte.

Sie klingen vom europäischen Engagement enttäuscht.

Schauen Sie, viele Libyer essen zur Zeit keinen Fisch. Fische fressen Leichen – das ist eine verbreitete Redewendung. Das Mittelmeer ist eine Schande für Europa geworden. Anstatt Mare Nostrum, der römischen Idee eines gemeinsamen Kultur- und Wirtschaftsraumes, ist das Mittelmeer jetzt eine Leichenbrühe. Die Europäer sind stolz auf ihre Demokratie und Kultur, aber wir sehen zur Zeit nichts davon. Aber ob die Europäer wollen oder nicht, die Afrikaner werden weiterhin kommen, weil sie zuhause nichts zu verlieren haben. Das ist eine Art koloniales Echo. Wo ist die vernünftige Wirtschaftspolitik, die den Leuten ermöglicht, zuhause Arbeit zu finden? Das gilt auch für Libyen. Sobald die Libyer wieder Geld von der Bank abheben können und sich sicher bewegen können, sind die Milizen weg vom Fenster. Doch zur Zeit finanziert die Zentralbank mit obskuren Geschäften die Milizen auf beiden Seiten, andere Gruppen verdienen mit subventioniertem Benzin, mit Migranten oder weil ihre Kämpfer auf Lohnlisten von Ministerien stehen. Das sind dieselben Leute, die später gegen die Wahlergebnisse vorgehen werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.