Evakuierung in Libanon: Eine Stadt muss fliehen
In der libanesischen Stadt Baalbek sind 80.000 Menschen von israelischen Angriffen bedroht. Die Luftangriffe verschärfen die humanitäre Krise.
Lokale Medien berichten, dass die Einschläge in Baalbek heftiger zu sein schienen als in der Vergangenheit. Auf geteilten Videos sind noch aus der Ferne Rauchwolken und Flammen zu sehen, die nach den Einschlägen mehrere Meter in die Luft steigen. Mindestens 19 Menschen wurden laut libanesischen Behörden getötet.
„Wir hatten schon vor einem Monat zur Sicherheit eine Unterkunft außerhalb gemietet“, erzählt Charbel Saliba aus Baalbek der taz. „Dann haben wir unser Haus in Baalbek verlassen, als wir gehört haben, dass sie die Stadt bombardieren werden.“ Es habe zwei Stunden gedauert bis, seine Familie im Libanongebirge angekommen sei. „Die meisten haben die Stadt verlassen, einige sind aber auch geblieben. Manche hatten Probleme, ein Auto zu finden. Deshalb sind sie zu Fuß rausgelaufen“, erzählt Saliba weiter.
Baalbek liegt in Ost-Libanon, 100 Kilometer von der Grenze zu Israel entfernt, und die Partei der Hisbollah ist die stärkste politische Kraft. Dort steht einer der größten noch gut erhaltenen antiken römischen Tempel, die zum UNESCO-Welterbe gehören. Nun fürchten Anwohnende, dass die historische Stätte durch israelische Angriffe zerstört werden könnte.
Baalbek liegt 100 Kilometer von der Grenze zu Israel
„Es ist alles möglich. Sie haben schon ein Haus zerstört, das ganz in der Nähe der römischen Stadtmauer war. Die Mauer ist teilweise kaputtgegangen. Das ist nur ein Kilometer von den Tempeln entfernt. Die Tempel selbst sind bis jetzt intakt, aber die Bomben reichten bis rund 500 Meter an die Tempelanlage heran.“
Zuvor behauptete die israelische Armee, sie könne Angriffe auf Baalbek nicht bestätigen. Die Luftwaffe habe in Ausläufern der Stadt aber „Kommandozentralen der Hisbollah“ bombardiert. Dafür legte das Militär keine Beweise vor. Am Donnerstag rief Israel nun auch Einwohnende in umliegenden Gebieten zur Flucht auf. Der Sprecher der israelischen Armee warnte zudem, dass neun Dörfer sowie ein Geflüchtetenlager von Palästinenser*innen im Südlibanon Ziel israelischer Angriffe sein würden. Es ist das erste Mal, dass die israelische Armee zur Räumung eines palästinensischen Lagers im Libanon aufruft. Der libanesische Übergangsregierungschef Najib Mikati verurteilte die Drohungen gegen die libanesische Zivilbevölkerung als „weiteres Kriegsverbrechen“.
Durch tägliche israelische Bombardierungen im Libanon wurden mehr als 2.800 Menschen getötet und rund 1,2 Millionen Menschen mussten entweder in andere Teile des Landes oder ins Ausland fliehen. Die Notunterkünfte sind bislang alle überfüllt. Über 30 Menschen suchten in nur einer Wohnung Schutz, erklärte eine Helferin im Ost-Libanon der taz noch bevor Baalbek geräumt wurde.
Noch kein formelles Angebot für Waffenruhe
Die Hisbollah hatte am Mittwoch laut israelischen Angaben etwa 60 Geschosse abgefeuert. Die meisten landeten auf offenem Gelände. Bei einem Einschlag auf einem Feld nahe der Grenzstadt Metulla sind fünf Menschen getötet worden, berichtet der israelische Sender Kan: ein israelischer Landwirt und vier ausländische Arbeiter. Nach israelischen Angaben sind seit Kriegsbeginn 69 Menschen im Norden Israels und in den besetzten Golanhöhen durch Beschuss aus dem Libanon getötet worden: 33 Zivilist*innen, sechs Ausländer*innen und 30 Soldaten.
Der neue Hisbollah-Chef Naim Kassim hat am Mittwoch Einlenken signalisiert. Die Miliz werde nicht um eine Waffenruhe „betteln“, sei aber bereit dazu, wenn Israel die Angriffe auf den Libanon einstelle. Kassims Vorgänger Hassan Nasrallah hatte noch gesagt, er stelle die Kämpfe erst bei einem Deal für Gaza ein.
Aus der Hamas hieß es am Mittwoch, man habe noch kein formelles Angebot für einen umfassenden Waffenstillstand erhalten, würde aber jeden Vorschlag in Betracht ziehen, der einen israelischen Abzug aus Gaza beinhalte. Zumindest eine Waffenruhe zwischen Libanon und Israel scheint nahe. „Vorsichtig optimistisch“, äußerte sich Libanons Regierungschef am Mittwoch. In einem Telefonat habe der US-Gesandte Amos Hochstein ein Abkommen vor den US-Wahlen angedeutet. Hochstein und der Nahost-Koordinator des Weißen Hauses reisten am Donnerstag für Gespräche nach Israel.
Ein Entwurf sehe vor, dass Israel seine Soldaten in sieben Tagen abziehe, berichtet der Sender Kan. Die libanesische Armee solle dann im Südlibanon stationiert werden. Der Plan solle innerhalb von 60 Tagen abgeschlossen sein. Zudem solle Israels „Recht zur Selbstverteidigung“ gegen Bedrohungen festgeschrieben sein.
Vorsichtige Verhandlungsbereitschaft aus Israel
Der schiitische Parlamentssprecher Nabih Berri ist Verbündeter der Hisbollah und Ansprechpartner für indirekte Verhandlungen. Er sagte, die UN-Resolution 1559, die die Entwaffnung aller Milizen im Libanon fordert, sei nicht im Gespräch. Abgemacht seien die Umsetzungen der UN-Resolution 1701, die Waffenruhe und der Einsatz der libanesischen Armee. „Wir warten darauf, dass Hochstein mit Netanjahu eine Einigung über das Erreichte erzielt.“
Aus Israel gibt es auch vorsichtige Verhandlungsbereitschaft. Medienberichten zufolge hat der israelische Generalstab dem Premierminister Benjamin Netanjahu empfohlen, jetzt eine diplomatische Lösung auszuarbeiten. Das Weiße Haus erklärte, Berichte über Entwürfe spiegelten „nicht den aktuellen Stand der Verhandlungen wider.“
Unterdessen sagen Arabische Menschenrechtsverteidiger*innen, es brauche dringend ein Waffenembargo gegen Israel, um „ein Massensterben unter der Zivilbevölkerung zu verhindern.“ In einem offenen Brief an den Deutschen Botschafter im Libanon haben 17 NGOs die deutsche Außenpolitik kritisiert. Die Rhetorik, dass zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren würden, weil angeblich Terroristen darin seien, rechtfertige Kriegsverbrechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken