Eurovision Song Contest: Grand Final
27 Länder nehmen in Wien am 60. Eurovision Song Contest teil. Unser Autor weiß, wer die besten Chancen hat – geordnet nach Startplätzen.
1. Slowenien: Maraaya „Here For You“ – leicht elektronisch angehauchte Nummer, gleichwohl bleibt ein Rätsel, weshalb sie unter Windmaschinenbeschuss Kopfhörer trägt und keine Pudelmütze. Prognose: unteres Fünftel. Das nördlichste Land des früheren Jugoslawien nahm erstmals 1993 an der Eurovision teil. Bestes Ergebnis war ein siebter Platz – den aber gleich zweifach: 1995 sowie 2001. 21. Eurovisionsgastspiel dieses Jahr in Wien.
2. Frankreich: Lisa Angell „N'oubliez pas“ – die Chanteuse serviert ein Lied in dunkler Kriegszerstörungskulisse – und will es auch so gemeint haben: ein Antikriegslied, aber stilistisch in viel zu pompöser Mahnwachenästhetik gehalten. Merke: Was mit wichtiger, melodisch zäh fließender Botschaft daher kommt, kann leicht als Friedensbewegungskitsch zurückgewiesen werden. Prognose: unteres Drittel. Frankreich, nebenbei, gewann fünf Mal (André Claveau 1958, Jacqueline Boyer 1960, Isabelle Aubret 1962 und Frida Boccara 1969), zuletzt 1977 mit Marie Myriam („L’oiseau et l’enfant“). Wien sieht die 58. französische Grand-Prix-Teilnahme. Letzter Eurovisionsgewinner in französischer Sprache: 1988 Céline Dion für die Schweiz.
3. Israel: Nadav Guedj "Golden Boy“ – der Spross jüdischer Franzosen und nunmehr Israelis besticht durch seine Tanzlust – und er tut dies mit dem augenzwinkernden Touch eines bewegungsfreudigen Welpen. 16 ist das Kerlchen. Achtung: Fransenpuschen! Prognose: Oberes Fünftel. Drei Mal gewann Israel (1978 Izhar Cohen & The Alpha-Beta, 1979 Gali Atari and Milk & Honey sowie 1998 Dana International.
4. Estland: Elina Born & Stig Rästa „Goodbye To Yesterday“ – hübsches Paar, das eine Art One-Night-Stand miteinander thematisiert und nicht froh darüber werden will. Netter Sound wie von Hazlewood & Sinatra, aber mit stärkerer Gitarrenbasis. Prognose: Top 10. Das nördlichste baltische Land debütierte beim ESC 1994. Zum 21. Mal nimmt es an der Finalwoche eines ESC.
Von den 20 Ländern, die die Semifinals bestanden, sind 14 aus den Regionen des Ostblocks, 6 sind klassisch westliche Länder plus Israel. Sieben Länder sind für das Finale automatisch qualifiziert – es sind die größten Zahler in die Senderkette der European Broadcasting Union: Frankreich, Spanien, Italien, Großbritannien und Deutschland. Außerdem Österreich als Gastgeber nach dem Sieg von Conchita Wurst 2014 in Kopenhagen sowie Australien, ESC-affin seit 1974 und den ESC seit den frühen Achtzigern regelmäßig ausstrahlend.
5. Vereinigtes Königreich: Electro Velvet „Still In Love With You“ – eigens für diesen ESC-Act angemietete Solisten, die sich noch vor wenigen Monaten nicht kannten. Ihr Beitrag unterscheidet sich erheblich vom Gros der ESC-Lieder dieses Jahres: Es hat Schwung, erinnert stark an musicaleske Tanznummern – und verweigert sich dem momentan aktuellen Pop-Mainstream deutlich: Charleston ist einfach immer noch out. Prognose: alles zwischen Platz 9 und 27. Zum 58. Mal nimmt Großbritannien und Nordirland an einem ESC teil – sein Debüt gab es 1957 – und ist das, den Punkten nach gerechnet, erfolgreichste Land der ESC-Geschichte. Neben etlichen zweiten, dritten und vierten Plätzen ragen fünf Siege heraus: 1967 Sandie Shaw, 1969 Lulu, 1976 Brotherhood Of Man, 1981 Bucks Fizz und 1997 Katrina & The Waves.
6. Armenien: Genealogy „Face the Shadow“ – sechs SängerInnen verhandeln in drei Minuten und sämigem Tempo den Fakt des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren. „Leugnet nicht“ sollte das Lied ursprünglich heißen. Besser geklungen hätte es auch dann nicht. Prognose: unteres Drittel. Acht Mal nahm dieses kaukasische Land seit seinem Debüt 2006 in Athen teil – und stets landete man unter den Top 10 – außer 2011. Bestes Resultat waren zwei vierte Plätze.
7. Litauen: Monika Linkytė & Vaidas Baumila „This Time“ – Erfrischendes Lied, das jede Hochzeitsfeier eröffnen könnte. Zwei SängerInnen, die sich offenbar mögen und durch treibende Beats im Happy-Go-Lucky-Style hübsch aussehen. Prognose: mittleres Drittel. Debüt 1994, in Kopenhagen zum 16. Mal beim ESC vertreten. Als bestes Resultat schaffte man einen sechsten Platz im Jahre 2006.
8. Serbien: Bojana Stamenov „Beauty Never Lies“ – Anwärterin auf den Titel „Schwuppenfreundin für jede Gelegenheit“. Schwungvolle Dorfdiskonummer, die durch das Engagement der wuchtigen Sängerin veredelt wird. Sie selbst trägt die Hochsteckfrisur der ESC-Jahre. Prognose: obere Hälfte. Nach einem Jahr Pause ist dieses Land zum achten Mal bei einem ESC dabei. Gleich beim Debüt 2007 siegte man – mit Marija Serifovic und ihrem „Molitva“ in Helsinki.
Vor einem Jahr hat sie den Eurovision Song Contest gewonnen, mit Bart und Abendkleid. Heute ist sie so etwas wie die Botschafterin Europas. Eine Annäherung an Conchita Wurst lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. Mai 2015. Schwaben meets Silicon Valley. Eine Woche tourt Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann mit einer Delegation durch Kalifornien – Peter Unfried hat sie zu den Weltmarktführern der Zukunft begleitet. Außerdem: Der Saxofonist Kamasi Washington brilliert mit seinem Debutalbum „The Epic“. Wir haben ihn in Los Angeles getroffen. Und: Eine Einführung in die orgasmische Meditation. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
9. Norwegen: Mørland & Debrah Scarlett „A Monster Like Me“ – ansprechende Kolossalpopsahneschnitte, die geheimnisvoll-träge beginnt und durch beide Chanteure eher kühl, denn überfröhlich interpretiert wird. Prognose: Oberes Viertel. Das skandinavische Land schaut auf eine einerseits betrübliche, andererseits triumphale Eurovisionsgeschichte zurück: Drei Mal gewann es (Bobbysocks 1985, Secret Garden 1995 und Alexander Rybak 2009), aber zugleich landete Norwegen am häufigsten auf dem letzten Platz, nämlich zehn Mal. Dieses Jahr ist es zum 54. Mal dabei.
10. Schweden: Måns Zelmerlöw „Heroes“ – Konfektionspop allerbester Machart. Verhält sich zu exzellentem Pop wie Strass zu Juwelen. Reißbrettproduktion, schlageresk wie einst, nur lauter. Prognose: oberes Sechstel. 1958 machte das skandinavische Land erstmals beim ESC mit – und schaffte bis zur 55. Teilnahme dieses Jahr in Wien fünf Siege, ebenso häufig wie Großbritannien und Frankreich: 1974 mit Abba, 1984 mit den Herrey’s, 1991 mit Carola, 1999 mit Charlotte Nilsson und 2012 mit Loreen. Die schwedische Popband Abba war der erfolgreichste Pop-Act, der je aus der Eurovision (vor Céline Dion und nach Udo Jürgens) hervorging.
11. Zypern: Giannis Karagiannis „One Thing I Should Have Done“ – Trauriges Lied, als sei es Hipster-Liedermacher-Jammertälern entsprungen. Der junge Mann trägt das entsprechende Outfit (Mad Men-Brille), um für Macchiato-Trinker erkannt zu werden. Prognose: obere Hälfte. Zum 32. Mal seit 1981 dabei. Bestes Resultat: fünfte Plätze 1982, 1997 und 2004.
12. Australien: Guy Sebastian: „Tonight Again“ – sieht flüchtig gesehen aus wie ein ins Pummelige gehender Bruno Mars, singt aber viel besser. Der Mann malaysischer Herkunft ist ein Superstar in seiner Heimat. Crooner der Extraklasse. Prognose: Siegfavorit. Sein Lied die perfekte Eintrittskarte in die alte europäische Welt. Seit den siebziger Jahre ist Australien stark am ESC interessiert, nimmt erstmals – vorläufig nur als Gast zum 60. ESC seit 1956 – an diesem Festival teil.
13. Belgien: Loïc Nottet „Rhythm Inside“ – moderner elektrosoundgeprägter Act eines wie entfesselt singenden Mannes aus der Wallonie. Seine These: Anderssein ist gut. Exzellente Nummer, auch seiner aufgerissenen Augen am Schluss wegen. Prognose: Top 5. Das dreisprachige Land zählte zu den Eurovisionsgründern 1956 – und gewann einmal: Sandra Kim holte die Trophäe 1986 mit „J’aime la vie“. Zum 57. Mal ist Belgien dieses Jahr dabei.
14. Österreich: The Makemakes „I Am Yours“ – Hippieband (Dodo Muhrer, Sänger; Markus Christ, Bass; Florian Meindl, Schlagzeug) vom Mondsee, Salzkammergut. Klingen mit ihrem Stück wie Coldplay, nur fescher, erdiger, weniger künstlich. Sie freuten sich über Conchita, ehe es ihr halbes Land tat. Und ihnen ist egal, ob sie gewinnen: Hauptsache Plattenvertrag. Prognose: Platz 7 bis ganz nach unten. Österreich ist zum 48. Mal seit 1957 dabei. 1966 brachte Österreich mit Udo Jürgens bei seiner dritten Teilnahme eine der ESC-Legenden („Merci Chérie“) hervor.
15. Griechenland: Maria Elena Kiriakou „One Last Breath“ – Nur im Finale, weil die Sängerin sich von einer Windmaschine bewehen lässt, als wäre diese die kalte Troika. Schreien ohne Bouzoukibeiwerk, das Kleid aus dem Fundus kretischer Provinzbühnen. Prognose: Unteres Drittel. Seit 1974 ist Griechenland dabei. In Wien ist es zum 36. Mal am ESC-Start. Nie belegte dieses Land den letzten Rang. 2005 in Kiew gewann es erst- und letztmals: mit der gebürtigen Schwedin Helena Paparizou und „My Number One“. Voriges Jahr reichte es nur zum 20. Platz im Finale.
16. Montenegro: Knez „Adio“ – Jugoslawischer Melancholiepop, sehr hymnisch, viel Pomp & Tanz. Anregend und freundlich. Prognose: Unteres Drittel. Nimmt seit seinem Debüt 2007 zum siebten Mal am ESC teil. Eine Finalteilnahme schaffte das einst zu Jugoslawien zählende Land erstmals 2014.
17. Deutschland: Ann Sophie „Black Smoke“ – Die Hamburgerin, die in New York durch Bars tingelte und dortselbst zur Bühnenschule ging, verfügt über eine prima Stimme – dass ihr schwarzer Rauch sich in Unwohlgefallen auflöst, bleibt offen. An der handwerklichen Präzision der Sängerin kann es im Falle einer Platzierung jenseits des 15. Rangs gewiss nicht gelegen haben. Prognose: Top 13. Das Land war bei der Premiere 1956 in Lugano dabei – und setzte nur 1996 aus. Erster Sieg 1982 (Nicole mit „Ein bisschen Frieden“), der zweite gelang 2010 (mit Lena Meyer-Landrut und „Satellite“). Deutschland ist in Wien das 59. Mal bei einem ESC.
18. Polen. Monika Kuszyńska „In The Name Of Love“ – Sängerin, die durch einen Autounfall so sehr verletzt wurde, dass sie im Rollstuhl auftreten muss. Ihr eher plätschernd-sentimentales Easiest-Listening-Liedlein wird Mitgefühl wecken wollen. Prognose: unteres Fünftel. Eurovisionäre Premiere 1994 in Dublin – die gleich mit dem zweiten und für dieses Land besten Rang endete: Edyta Górniak mit „To nie ja“. In Wien wird es die 18. ESC-Performance sein. 2014 schaffte man im Finale durch Donatan & Cleo den 14. Platz.
19. Lettland: Aminata Savadogo: „Love Injected“ – Kind russisch-lettisch-burkinafasoischer Eltern aus Riga, musikalisch versiert in modernen Clubstyles. Trans-Dance-Elektro-Pop-Ballade. Prognose: mittleres Drittel. 2003 Gastgeber wegen des Sieges von Marie N. („I Wanna“), wird die mittlere der baltischen Republiken zum 16. Mal teilnehmen. 2000 ESC-Auftakt mit der Gruppe Brainstorm („My Star“) und einem dritten Rang.
20. Rumänien: Voltaj „De La Capăt“ – dieser Beitrag sagt: Hört zu! Die Botrschaft muss vernommen werden. Welche? Dass rumänische Kinder verelenden, weil sie ohne Eltern aufwachsen, da diese im Westen ackern müssen. Klingt gut, auch ohne Sozialbotschaft: Karpartenästhetik. Prognose: unteres Mittelfeld. Dieses Jahr zum 18. Mal beim ESC mit von der Partie; seinen Einstand gab es 1994 in Dublin. Als bestes Resultat freute man sich über den dritten Platz zweifach, zuletzt in Oslo 2010.
21. Spanien: Edurne „Amanecer“ – Dramaqueen aus Madrid, deren Lied eher eine Klangmauer voller sängerischer Inbrunst aufbaut. Sehr wolkig-wuchtig, dieses Lied, das die auf große Gesten spezialisierte Sängerin exzellent zu singen weiß. Prognose: mittleres Drittel. Zweimal gewann Spanien die Eurovision - 1968 mit Massiel („La La La“) und 1969 mit Salomé („Vivo cantando“), Letztere allerdings mit drei weiteren Gewinnerinnen. Wien sieht den 54. Grand-Prix-Auftritt des Landes.
22. Ungarn: Boggie „Wars For Nothing“ – Schundnummer im Namen des Friedens Nummer eins. Säuseln und wimmern in unauffälligem Outfit. Der Chor zur Interpretin steht ihr gesanglich nicht im Wege. Schleppendes Langweilertum aus Budapest. Prognose: unteres Viertel. Zum 13. Mal ist dieses Land mit von der Partie. Bestes Resultat: der vierte Platz beim Debüt 1994 in Dublin durch Friderika und ihrem „Kinek mondjam el vétkeimet“. In Kopenhagen landete man auf dem fünften Platz im Finale.
23. Georgien: Nina Sublatti „Warrior“ – Sie sieht aus wie eine Gundel Gaukeley des Kaukasus – grellstes Bühnenoutfit des Jahres. Kompromisslos sich in dunkelsten Farbtöpfen bedient. Diese Kriegerin will erhört werden: So muss man ihren aufdringlichen Gesang verstehen. Prognose: mittleres Drittel. Dieses Land debütierte 2007 und ist in Wien zum achten Mal beim ESC dabei. Bestes Resultat: der neunte Platz zweifach - 2010 und 2011.
24. Aserbaidschan: Elnur Hüseynov „Hour Of The Wolf“ – etwas nervöses Lied, das auch durch die zwei Tänzer um den Künstler aus Baku nicht wirklich an Gehalt gewinnt. Aber: Der Mann hat eine starke Stimme. Prognose: unteres Fünftel. 2008 Debüt im ESC-Zirkus, dieses Jahr zum achten Mal im Spiel: 2011 siegte man in Düsseldorf mit Ell/Nikki und „Running Scared“ . Aserbaidschan ist dieses Jahr einer von neun ESC-Aspiranten, die einst zur UdSSR gehörten; schaffte es seit seinem Debüt stets ins Finale.
25. Russland: Polina Gagarina „A Million Voices“ – kitschigstes, verlogenstes, süßlichstes Lied dieses Jahres. Bombastische Stimme der Moskauerin. „Ein bisschen Frieden“ reloaded. Die Riefenstahl'sche Anmutung der Bühnenbeleuchtung, in das sie getaucht wird, möge man ihr nicht verargen. Prognose: Mitfavoritin. 1994 debütierte Russland – in Wien wird es die 19. ESC-Performance sein. 2008 gewann das größte Land der Eurovisionsgemeinde erstmals den ESC – mit Dima Bilan und „Believe“. In Kopenhagen belegte man den siebten Platz durch die Tolmatschowa-Schwestern und „Shine“.
26. Albanien: Elhaida Dani „I'm Alive“ – eine Frau, die weiß, wie man laut ins Mikro hineinsingt. Ihr Lied unterscheidet sich vom griechischen oder spanischen nur in Nuancen: Sie alle mit Lärmteppichen und ohne echte Liedstruktur. Prognose: unterstes Fünftel. Das Land am Mittelmeer nimmt in Wien zum zwölften Mal am ESC seit dem Debüt 2004 teil. Bestes Resultat: 2012 Rona Nishliu („Suus“) auf dem fünften Platz.
27. Italien: Il Volo „Grande Amore“ – Ein Männertrio, das im Klassik-Stil singt – drei schmucke Herren, die auf überkandidelte Weise so tun, als sei die Zeit der singenden Tenöre nicht längst Jahre her. Bei den Buchmachern liegt dieser Beitrag sehr weit vorne. Prognose: Top 5. Italien, en passent, gewann zweimal den ESC – 1964 mit Gigliola Cinquetti und 1990 mit Toto Cutugno – und gehört zu den erfolgreichsten ESC-Ländern überhaupt. Mit Domenico Modugnos „Nel blu, dipinto di blu“ hat es 1958 einen der stärksten Evergreens der ESC-Geschichte hervorgebracht. In Wien nun die 41. ESC-Teilnahme.
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