Europas geschlossene Grenzen: Mehr Reflex als Effekt
Die rein nationale Ausrichtung der Gesundheitssysteme ist das Problem: die grenzüberschreitende Krise legt die Defizite der Zusammenarbeit bloß.
V or einer Woche war ich in Maastricht an der belgischen Grenze, die nicht mehr als einen Kilometer hinter meinem Haus liegt. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen: Die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden ist geschlossen. Ohne einen triftigen Grund kommt niemand durch, was ein einzigartiges Ereignis in der jüngsten Geschichte ist. Eigentlich vergleichbar mit dem Fall der Mauer vor dreißig Jahren. Nur dieses mal anders herum. Dabei waren diese Grenzschließungen nicht unvermeidlich.
Sie sind eine Folge der fehlenden Koordinierung der nationalen Maßnahmen innerhalb der Europäischen Union. Und auch der komplett nationalen Ausrichtung der Gesundheitssysteme in Europa. Natürlich hat die belgische Regierung argumentiert, dass die Schließung der Grenze zu den Niederlanden und zu Deutschland eine notwendige Maßnahme zum Schutz der Gesundheit der eigenen Bevölkerung sei. Sie würde dazu beitragen, die Infektionsraten niedrig zu halten.
Die nationale Grenze? Mit dem heutigen Wissen hätten wir schon viel früher verhindern sollen, dass Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt in die EU einreisten. Oder die einzelnen Hotspots in der Europäischen Union hätten schneller geschlossen werden müssen, wie es in Norditalien viel zu spät versucht wurde. Aber diese Hotspots hatten sehr wenig mit nationalen Grenzen zu tun.
Der Hotspot im deutschen Kreis Heinsberg hatte zwar Folgen für das benachbarte niederländische Sittard auf der anderen Seite der Grenze, aber noch viel mehr für Aachen und das übrige Bundesland Nordrhein-Westfalen.
Grenzen schließen als Ausdruck nationaler Ohnmacht
Die Kontrolle von geografischen Hotspots ist natürlich eine viel logischere Maßnahme, als regionale oder nationale Grenzen abzuriegeln. Deshalb ist die Grenzschließung zwischen den Niederlanden und Belgien nicht weniger merkwürdig als zwischen zwei Bundesländern (auch Mecklenburg-Vorpommern hat alle Einreisen ohne triftigen Grund verboten). Dies ist eher ein Ausdruck von Ohnmacht, weil die eigentliche Koordinierung von Maßnahmen fehlt.
Als die Geschäfte nämlich in Belgien bereits geschlossen hatten, waren sie in den Niederlanden noch offen. So kamen die Belgier in Scharen nach Maastricht, um einzukaufen. Und als in Belgien bereits viel strengere Maßnahmen in Kraft waren, haben die niederländischen Tagestouristen offenbar so getan, als würde sie das nicht betreffen.
War das vorhersehbar? Ja, das war es. Für viele Menschen ist die grenzenlose Euregio, die länderübergreifende europäische Region, heute Teil ihres normalen Alltags. Wenn drastische einseitige Maßnahmen so schnell ergriffen werden, dass die Informationen die Menschen kaum noch erreichen, führt dies zu Problemen.
Dabei zeigt das Beispiel Österreichs recht deutlich, wie begrenzt die positiven Effekte der Schließung einer nationalen Grenze sind. Dort hatte die Regierung schon früh die Grenze zu Italien geschlossen, auch zu Südtirol (ebenfalls Teil einer lebendigen Euregio). In den beiden Skigebieten im österreichischen Tirol wurden die Lifte jedoch viel zu spät geschlossen.
So war es bekanntlich möglich, von den alpinen Skigebieten in das übrige Österreich oder nach Süddeutschland zu reisen und den Virus mitzunehmen. Ministerpräsident Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen ist einer der wenigen, die bezweifeln, dass Grenzschließungen wirklich helfen. Er hat sich dafür eingesetzt, dass die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden offen bleibt, oder wenigsten nicht systematisch und flächendeckend kontrolliert wird.
Zu sehr auf den nationalen Rahmen konzentriert
Es ist dabei kein Zufall, dass das Bundesland Nordrhein-Westfalen und die Niederlande das Schließen der Grenze gerade noch verhindern konnten, hat doch die Landesregierung in Düsseldorf mit den Nachbarn eine grenzüberschreitende Taskforce eingerichtet.
Allerdings werden auch in Grenzregionen die strukturellen Probleme sichtbar. Andere, eigentlich gut integrierte Nachbarn mit grenzüberschreitenden Governance-Systemen, wie die nordischen Länder (Nordic Council), scheinen im Krisenfall wenig Spielraum zu haben. So hat Dänemark beispielsweise aus Sorge um sein eigenes Gesundheitssystem seine Grenze zum benachbarten Schweden geschlossen.
Also scheinen Gesundheitssysteme, die bisher in der Europäischen Union national ausgerichtet sind (die EU hat nur unterstützende Kompetenzen), den Anforderungen einer grenzüberschreitenden Krise nicht gerecht zu werden.
Und dieser Fehler im System der Europäischen Union hat maßgeblich zu einer „Rette sich wer kann“-Mentalität beigetragen in Sachen medizinisches Material, Testkapazitäten und Intensivbetten. Strukturelle Solidarität mit Italien und Spanien hätte anders aussehen müssen.
In der Krise hat die zwischenstaatliche „freiwillige“ Abstimmung nicht überzeugt. Es hilft auch nicht, der europäischen Kommission Vorwürfe zu machen. Es fehlen schlicht die Kompetenzen. Erst spät gibt es gute Nachrichten: Die EU Kommission hat in Absprache mit den meisten Mitgliedstaaten (und Großbritannien) ein gemeinschaftliches Beschaffungsprojekt angestoßen für medizinisches Material.
Und auch in Sachen freiwilliger Ad-hoc-Solidarität gab es Positives zu berichten: Italienische Patienten werden in Sachsen behandelt, französische Patienten aus dem Elsass in Baden-Württemberg und aus den Niederlanden beispielsweise auf der Intensivstation von Krankenhäusern in Münster. Dass dies hier und heute besonders herausgestellt und gelobt werden muss, das sagt schon viel über die reichlichen systemischen Defizite in Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs