Europas Wirtschaft stürzt ab: Merkel muss Feuerwehr spielen
Kanzlerin Merkels Besuch im EU-Parlament war als Höflichkeitsvisite geplant. Doch jetzt stürzt die Wirtschaft in der EU schlimmer ab als erwartet.
Die europäische Wirtschaft stürzt noch schneller ab als befürchtet, die Coronakrise ist noch tiefer: Dies prognostizierte die EU-Kommission am Dienstag. Statt – wie bisher erwartet – um 7,7 werde die Eurozone 2020 um 8,7 Prozent schrumpfen, warnte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.
Deutschland kommt zwar mit einem blauen Auge davon, hier soll der Einbruch „nur“ 6,3 Prozent betragen. Doch Italien, Spanien und Frankreich müssen mit einer Rezession im zweistelligen Bereich rechnen. Die Folgen des Lockdowns seien schlimmer als befürchtet, sagte Gentiloni, der selbst aus Italien kommt.
Damit steigt der Druck auf Merkel und Deutschland. „Wir müssen das Vertrauen in unsere Volkswirtschaften in dieser kritischen Zeit stärken und Finanzmittel verfügbar machen“, mahnte Gentiloni. Deshalb sei es „wichtig, eine rasche Einigung über den von der Kommission vorgeschlagenen Aufbauplan zu erzielen“.
Mini-Gipfel mit von der Leyen
Doch die ist nicht in Sicht. Merkel will ihren Besuch in Brüssel zwar zu einem Mini-Gipfel nutzen. Sie trifft sich nicht nur mit Parlamentspräsident David Sassoli und führenden Europaabgeordneten, sondern auch mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen und dem ständigen Ratspräsidenten Charles Michel. Ein Durchbruch ist jedoch nicht zu erwarten.
Denn die Fronten sind verhärtet. Die „sparsamen Vier“, die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden, sind nicht bereit, den Wiederaufbau durch EU-Schulden zu finanzieren, wie von der Leyen vorgeschlagen hatte.
Die Nordländer wollen EU-Hilfen auch nicht als Zuschüsse vergeben, sondern nur als rückzahlbare Kredite. Sogar die Höhe des Wiederaufbaufonds ist umstritten: Sollen es nun 750 Milliarden Euro sein, wie von der Leyen will, oder nur 500 Milliarden, wie im deutsch-französischen Vorschlag von Merkel und Staatspräsident Emmanuel Macron?
Widerstand kommt auch aus Südeuropa. So verwahrt sich Italien dagegen, dass Merkel dem Land Ratschläge erteilt – etwa bei der Nutzung des Euro-Rettungsfonds ESM. Und Griechenland sträubt sich gegen verbindliche Auflagen aus Brüssel, an die die EU-Hilfen gebunden werden könnten. Athen fürchtet eine Rückkehr der Troika.
Mehr Geld für den Wiederaufbau
Dem Europaparlament hingegen gehen die EU-Pläne nicht weit genug. Es fordert mehr Geld für den Wiederaufbau, aber auch mehr demokratische Mitsprache bei der Verwendung der Mittel. Wie Merkel diese kaum vereinbaren Forderungen in einen einstimmigen EU-Beschluss überführen will, weiß sie wohl selbst noch nicht.
Denn auch Deutschland wünscht sich Nachbesserungen. Der Berechnungsschlüssel für die Aufteilung der EU-Hilfen an die 27 Mitgliedsländer müsse geändert werden, die Datenbasis stimme nicht, erklärte Merkel beim letzten Video-Gipfel vor zwei Wochen. Zudem will sie den – durch den Brexit eigentlich überflüssigen – deutschen EU-Rabatt erhalten.
Wie es weiter geht, soll nun der Mini-Gipfel in Brüssel erweisen. Merkel soll einen Weg weisen, zumindest einige Ideen vorstellen. Von der Leyen will ihr dabei helfen – die weibliche deutsche Doppelspitze muss sich zum ersten Mal beweisen. „Wir schaffen das“, gaben sich die beiden CDU-Politikerinnen vor dem Treffen optimistisch.
Aber auch Ratspräsident Michel ist gefordert: Er soll einen Kompromiss für das künftige EU-Budget vorlegen, in das auch der Wiederaufbaufonds eingebettet ist. Mit diesem Papier soll es dann in den EU-Gipfel in zehn Tagen gehen. Aber auch da erwartet man noch kein Ergebnis. Ausgerechnet der niederländische Premier Mark Rutte, bisher einer der engsten Partner von Merkel, steht auf der Bremse. Die Kanzlerin wird wohl noch länger Feuerwehr spielen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen