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Europas BruchlandungKrieg die Krise!

Kommentar von Dirk Knipphals

Alle reden schlecht von der Krise. Das ist sie auch. Sie lässt sich aber auch anders sehen: als Normalzustand und als Chance.

Krisenstimmung: hoch, runter, zur Seite und vor. Bild: dpa

L ange Zeit habe ich geglaubt, Begriffsgeschichte sei etwas für angestaubte Philologen. Bis ich mir die Begriffsgeschichte der Krise angesehen habe. Das war, als die europäische Finanzkrise gerade hochkochte. Und es war sehr interessant. Seitdem glaube ich, dass es längst Bestandteil des notwendigen Umgangs mit Krisen ist, sich klarzumachen, worüber wir eigentlich reden, wenn wir von Krisen reden.

Wie so vieles stammt der Begriff von den alten Griechen, und zwar aus der Medizin. Eine Krise in diesem Sinn bezeichnet eine Entscheidungssituation: den Moment eines Krankheitsverlaufs, in dem es auf Leben oder Tod geht. Der Kranke selbst fühlt sich in diesem Moment vollkommen ausgeliefert und zur Ohnmacht verurteilt. Erst die Lösung der Krise bringt für ihn eine Befreiung.

All das schwingt bis heute mit; tief eingesenkt hat sich dieser Krisenbegriff in unser Denken. In den Begriff der Krise ist sozusagen ein Alarmmechanismus eingebaut. Er ruft sofort einen ganzen Kontext von Sätzen mit Ausrufezeichen auf. Von „Es geht um Leben und Tod!“ über „Hier und jetzt muss etwas geschehen!“ bis „Sonst bricht alles zusammen!“.

Und bei allem, was unhaltbar und verstörend war und noch ist an der Eurokrise in Griechenland und anderswo: Dieser Aspekt hat gut funktioniert. Die mediale Präsenz und die Aufmerksamkeit des politischen Systems war sofort vorhanden. Und es war ein Bewusstsein dafür vorhanden, wie tiefgreifende Lebenskrisen solche wirtschaftliche und politischen Krisen bei den Betroffenen auslösen können.

Es muss etwas geschehen

Allerdings drückt der Begriff der Krise nur aus, dass etwas geschehen muss. Was genau zu geschehen hat, sagt er nicht. Außerdem ist es immer eine Frage der sachlichen Analyse und politischen Interpretation, worin genau die Krise denn nun bestand. Bankenkrise, griechische Krise, Finanzkrise, EU-Krise, Krise Europas? „Was heißt heute Krise?“, hat der Philosoph Jürgen Habermas einmal in einem wichtigen Aufsatz gefragt. Das muss immer neu ausgehandelt werden – im Fernsehen gibt es die vielen Talkshows, die im Grunde nichts anderes als dies tun.

Was man aber vor allem sehen muss: Der Krisenbegriff verführt zu starken Pauschalisierungen. Er verleitet dazu, eindeutig Schuldige zu benennen, wo in Wirklichkeit auf der Ursachenseite komplexe Prozesse stehen. Er verleitet dazu, einfache Rezepte zur Behebung der Krise anzubieten. Das ist attraktiv für Aktivisten, aber untauglich für eingehende Analysen.

Und es gibt noch einen Nachteil des Krisenbegriffs: Er legt einem nahe, zu denken, dass die Krise die Abweichung von einem unkrisenhaften Normalzustand ist – der Gesundheit, des Naturzustands, der vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft. Genau dieser Zustand des Normalen ist uns in der modernen Welt aber abhandengekommen, und das ist auch gut so. Es ermöglicht ein vielleicht komplizierteres, aber auch reicheres, nicht auf eindeutige Identitäten festgelegtes individuelles Leben.

Fruchtbar und kompliziert

Schon die alten Griechen haben ihren Krisenbegriff über die Medizin hinaus weiterentwickelt. In der griechischen Tragödie ist eine Krise der Wendepunkt eines schicksalhaften Geschehens, und sie bricht nicht von außen über den Helden hinein, sondern ist in der Struktur des Handlungssystems selbst angelegt. Krise steht hier also für einen fundamentalen Konflikt, den man nicht einfach lösen, dem man aber auch nicht ausweichen kann.

Dieser Begriff der Krise ist etwas komplizierter, aber in manchem auch fruchtbarer. Was man mit ihm in den Blick bekommen kann, ist das Moment der Entwicklung. Entwicklungen sind ohne Krise nun mal nicht zu haben, und der Punkt ist: Entwicklungen können, zumindest auf längere Sicht, auch manchmal positiv sein. In den heutigen Alltagssprachgebrauch übersetzt, bedeutet das, dass eine Krise auch eine Chance sein kann.

Was wir so vielleicht brauchen, ist ein differenzierteres Sensorium für Krisen. Das duale Denken, das vielen Krisenszenarios zugrunde liegt – keine Krise: alles gut; Krise: alles schlecht –, sollte man hinter sich lassen. Eine Gesellschaft ohne Krisen wäre statisch. Und stattdessen sollte man lernen, mit Krisen zu leben und darüber hinaus gute von schlechten Krisen zu unterscheiden. So ist die Krise des griechischen Gesundheitssystems nach der Finanzkrise ganz sicher schlecht und unnötig. Aber die Krisen eingefahrener nationaler Identitäten und tradierter Strukturen haben auch ihr Gutes.

Dass es in Europa Krisen gibt, muss also nicht heißen, dass alles immer schlechter wird. Es kann auch heißen, dass Europa sich gerade – entwickelt.

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Literaturredakteur
Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs "Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind" und des Romans "Der Wellenreiter" (beide Rowohlt.Berlin).
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9 Kommentare

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  • Ein Stück marktreligiöser Prosa oder auch: unpolitisches Geschwafel.

  • 'Entwicklungen sind ohne Krise nun mal nicht zu haben'

     

    Zu einer Geburt gehören Wehen und bevor der Vogel Phönix aus der Asche aufsteigenn, kann muss es brennen - also lassen wir es wehen und brennen, damit die Entwicklung schneller voran geht.

     

    Lieber ein Ende mit Schrecken (und Neuanfang) als ein Schrecken ohne Ende.

     

    Dieses Ende mit Schrecken wird allerdings sehr umfassend (global und in allen Bereichen) und gründlich ('es bleibt kein Stein mehr auf dem anderen'!) geschehen, denn alles andere wäre nur Maniküre!

  • I

    So, kommt man mittlerweile vornehm daher. Krise als wohlbekanntes Übel, das es eben auszustehen gilt. Eine kleine Veränderungsankündigung, von dem wir sicher den notwendigen Bedarf und nötige Maßnahmen ableiten. So kann locker vom Hocker weiter gestümpert werden.

    Was droht ist Aktivismus derjenigen, die weder eine Krise geliefert bekommen, noch selbst eine Krise liefern wollen. Das eine bekämpfen wir schon, die Krise derjenigen die keine Krise geliefert bekommen wollen. Als nächstes diejenigen, die dafür einstehen daß der Krisenzauber beendet wird.

    Krise ist ein ökonomischer Saftladen, der auf niedrig qualifizierten Expertisen selbsternannter und selbst heilig gesprochener Fachleute beruht. Das armselige Ergebnis reicht absolut zum Nachteil für alle und absolut zum Vorteil der Krisenbetreiber. Sektenökonomie fällt einem dazu ein.

    Krise ist eine gewollt fehlerhafte Ökonomie, jedenfalls was andere betrifft. Zum jetzigen Zeitpunkt der Krise geht es darum, den Eigenschaden der Betreiber aufgrund deren Verantwortung von diesen abzuwenden, und auf bevorzugt ahnungslose andere abzuwälzen. Die internationale Politik folgt dieser Logik.

  • II

    Die Antwort der Krisenbetreiber auf die Krise ist. Fürchtet euch nicht, die Krise muß nur (von euch) ausgehalten werden. Eine Krisenverwaltung von Leuten, die sich Fachleute nennen, die ihrerseits nichts weiter als überall die gleiche Krise produzieren, soll wohl zum heiligen Gut der Ökonomie gestempelt werden. Das kann nur heißen, die Krise ist demokratisch geworden.

    Zu den Fachleuten der Krise, dazu kommen die Heiligtümer des öffentlichen Rechts und das demokratische Zustimmungsplagiat, ist komischerweise keine Kritik erlaubt. Eine Meinung dazu wird gar nicht wahrgenommen, jeder Widerstand wird unterdrückt. Wie heilig also soll die Krise werden. Oder sollen wir warten, bis der Heiland kommt.

    Führen sie weiter ihren Naturschlaf. Wir brauchen ihre Krise nicht. Eine Demokratie, in dem Stümper und Trottel herrschen, wollen wir nicht. Ein Europa für Deppen, die eine Krise nach der anderen produzieren, brauchen wir nicht. Eine Ökonomie und eine Weltwirtschaft, die einem solchen Vorbild gehorcht, was soll das bitte. Die Antwort heißt: Krieg die Krise!

  • Jahrgang 1963, westdeutsch, Studium der Literatur und Philosophie: ein typischer Vertreter der Foucault-Derrida-Nietzsche-Dichterphilosophen Generation, die außer dem postmodernistischen Budenzauber nichts anderes kennengelernt haben. Insbesondere haben solche Leute keine Seite Marx gelesen in Ihrem Leben.

    Ich habe den Beitrag nur überflogen, aber der Grundansatz ist ansonsten typisch deutsch-philosophisch: der tatsächlichen vorgängigen spezifisch-kapitalistischen Krise soll die extistentielle Spitze abgebrochen werden, indem man sie einfach als Sonderfall eines allgemeinen Typus oder Gesetzes interpretiert. Dieses Verfahren hat der Kultursoziologe Georg Simmel schon vor über 100 Jahren in seinem Aufsatz über "Die Tragödie der Kultur" erfolglos durchexerziert. Witzig, nun ausgerechnet von einem postmodern-sozialisierten Autor, der gegen Marx wahrscheinlich gerne Nietzsches Teleologiekritik in Stellung bringt, ein überhistorisches, krisenhaftes Entwicklungsmodell postuliert zu sehen. Das ist schlechte, alte Geschichtsphilosophie: der an sich sinnlose, ziellose, unverfügbare Prozeß wird synergistisch allegorisiert, um die eigene Ohnmacht zu cachieren.

  • Ein ausgesprochen interessanter und fruchtbarer Beitrag, finde ich! Das Problem, das ich aber sehe: Einerseits stimmt die These meiner Meinung nach, dass die Sensibilität für die sozialen Probleme durch die Krise in Griechenland gewachsen ist - aber eben nur relativ.

     

    Sensibel dafür sind nur jene Menschen, die empathisch sind und eine soziale Einstellung haben. Überhaupt nicht empathisch sind jene Menschen, die an der Macht sind, wie Frau Merkel, die Manager der Deutschen Bank und Konsorten! Diese Menschen sitzen an den Hebeln der Macht und sie machen alles, was die Krise ausmacht, nur noch viel schlimmer!

     

    Die Frage ist also: Welche Art von Entwicklung ergibt sich aus der Krise? Eine gute Entwicklung, das wäre für mich zb eine soziale Revolution, die Schluss macht mit dem kapitalistischen Amoklauf. Oder eine schlechte Entwicklung, die alles das noch weiter verschärft, woran die Griechen, Spanier und viele andere so sehr leiden?

  • Um einen solchen Artikel zu schreiben, muss man es selbst ganz schön gut haben oder man braucht eine selektive Wahrnehmung, die einem den Blick verstellt vor den persönlichen Tragödien und Katastrophen, die sich gerade in Europa ereignen.

     

    Ich persönlich kann nichts Gutes dabei finden, dass in einem Land wie Griechenland gerade nur eines ansteigt: die Selbstmordrate. Wenn der Autor anders denkt, so ist das im Sinne seiner Menschlichkeit zu bedauern, (Mein Bedauern dem Autor gegenüber hält sich allerdings in engen Grenzen.)

    • @Hunter:

      Volle Zustimmung.

       

      Habe selten ein solches Geschwafel gelesen. Und dass angesichts der schlimmen Zustände in Südeuropa. Ein Text aus der Schublade römisch-dekadent.

    • @Hunter:

      Naja, aber das sagt er ja gar nicht. Der Autor differenziert doch klar zwischen guten und schlechten Krisen und nennt als Beispiel für eine schlechte Krise explizit den Niedergang des griechischen Gesundheitssystems!