Europäischer Forschungsrat: Offener Streit mitten in Pandemie
Der ERC-Chef tritt zurück und begründet das mit Versäumnissen der EU im Kampf gegen Corona. Der Rat reagiert mit harten Worten.
Die Financial Times hatte zunächst Ferraris Rücktrittserklärung veröffentlicht, in der dieser dem ERC vorwarf, es als wichtigster Geldgeber für europäische Forschungsprojekte versäumt zu haben, Wissenschaft zur Bewältigung der Corona-Pandemie zu finanzieren. Sein Vorschlag für ein spezielles Programm zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus sei abgelehnt worden, beklagte Ferrari in dem Schreiben.
Er habe argumentiert, es sei nicht der Zeitpunkt, sich „übermäßig Sorgen um Feinheiten“ verschiedener Ansätze der Wissenschaftsförderung zu machen. Stattdessen müsse schnell „mit den besten Waffen“ gegen „diesen gewaltigen Feind“ angegangen werden. Auch kritisierte er die Krisenreaktion der EU grundsätzlich und führte etwa „das völlige Fehlen von Koordinierung der Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten“ und „die allgegenwärtigen einseitigen Grenzschließungen“ an.
Der in Brüssel ansässige ERC reagierte nun mit harten Worten. Ferrari habe während seiner dreimonatigen Amtszeit „ein völliges Unverständnis für die Daseinsberechtigung“ der EU-Agentur gezeigt. Er habe an wichtigen Sitzungen nicht teilgenommen, viel Zeit in den USA verbracht und persönliche wissenschaftliche und geschäftliche Projekte verfolgt, anstatt die Interessen des ERC zu vertreten.
Ferrari gehe „bestenfalls sparsam mit der Wahrheit“ um
Aus diesen Gründen hätten alle 19 Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates Ende März einstimmig seinen Rücktritt gefordert. Professor Ferrari gehe in seiner Darstellung der Geschehnisse „bestenfalls sparsam mit der Wahrheit um“, fügten die Wissenschaftler hinzu.
Zum Einsatz gegen das neuartige Coronavirus verwiesen sie auf „über 50 laufende oder abgeschlossene ERC-Projekte, die mit einem Gesamtwert von etwa 100 Millionen Euro unterstützt werden“ und in verschiedenen Bereichen wichtige Erkenntnisse zur Reaktion auf die Pandemie lieferten. Allerdings mache der ERC keine Aufrufe zu bestimmten Themen, sondern überlasse die Formulierung von Forschungszielen den Forschern – das sei die Leitlinie der Behörde.
Ferrari hatte Amt gerade erst angetreten
Ferraris Vorschlag für ein spezielles Anti-Corona-Programm habe der rechtlichen Grundlage des ERC widersprochen, erklärte auch der EU-Abgeordnete Christian Ehler (CDU), der im Europaparlament für Wissenschaftsfinanzierung zuständig ist. Ferarri habe vom „forschungsgetriebenen Ansatz des ERC“ abweichen wollen, um stattdessen „Augenwischerei in der Öffentlichkeitsarbeit zur Corona-Krise“ zu betreiben.
Der 2007 gegründete ERC ist die wichtigste europaweite Förderagentur für Spitzenforschung. 2019 hatte sie ein Budget von über zwei Milliarden Euro.
Die EU-Kommission bedauerte den Rücktritt des ERC-Vorsitzenden „in diesem frühen Stadium seines Mandats und in diesen Zeiten einer beispiellosen Krise, in der die Rolle der EU-Forschung eine Schlüsselrolle spielt“. Ferrari war erst im Mai vergangenen Jahres ernannt worden und hatte sein Amt zu Beginn dieses Jahres angetreten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!