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Europäische Union im Jahr 2020Club der Egoisten

Eric Bonse
Kommentar von Eric Bonse

Der deutsche EU-Vorsitz hat Europa nicht aus der Krise geholt. Im Gegenteil: Es ist alles nur noch schlimmer geworden.

Kam in Brüssel auch mit Diplomatie nicht weiter: Angela Merkel Foto: Aris Oikonomou via ap

B rexit, Corona, der Streit ums Geld: 2020 war kein leichtes Jahr für die Europäische Union. Zum ersten Mal hat die EU ein großes Mitgliedsland verloren, zum ersten Mal musste sie einer brutalen Pandemie trotzen – und zum ersten Mal hat sie in großem Stil Schulden aufgenommen, um die Folgen der Coronakrise zu bewältigen.

Schon im Frühjahr sah es so aus, als könne die EU an diesen Herausforderungen scheitern. Jeder machte, was er wollte, Egoismus und Gesundheitsegoismus griffen wie das Virus um sich. Auch Deutschland war dagegen nicht immun. Dass Berlin die Grenzen schloss und Nothilfe verweigerte, haben viele Europäer bis heute nicht vergessen.

Unter deutschem EU-Vorsitz sollte dann alles besser werden. Als es im Juli losging, versprach Kanzlerin Angela Merkel, die Brexitwunde zu heilen und die Schäden der Pandemie zu beheben. Es war ein frommer Wunsch, wie wir heute wissen.

Kurz vor Ende der deutschen Präsidentschaft am 31. Dezember ist die EU alles andere als stark. Selbst der European Green Deal, der schon beschlossene Sache schien, ist noch nicht in trockenen Tüchern. Bisher haben sich die EU-Staaten nicht einmal auf ein Klimaziel für 2030 geeinigt. Beim Gipfel in der kommenden Woche droht ein Debakel.

Wie konnte es so weit kommen? In Berlin und Brüssel verweist man gern auf die Populisten und Nationalisten. Der unberechenbare britische Premier Boris Johnson, der rechtspopulistische ungarische Regierungschef Viktor Orbán und sein nationalistischer polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki sollen schuld an der Misere sein. Das sind sie auch. Doch die drei Egoisten sind nicht allein. Die Frugal Four, die geizigen Vier, sind keinen Deut besser. Die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden hätten den entscheidenden EU-Budgetgipfel im Juli um ein Haar platzen lassen. Am Ende haben sie sich – genau wie Deutschland – noch saftige Rabatte auf ihren EU-Beitrag gesichert.

Spuren hinterlassen

Auch diese Episode hat Spuren hinterlassen. Denn die Hardliner auf allen Seiten verhindern nun einen Kompromiss im Streit über das EU-Budget und den Rechtsstaat. Orbán und Morawiecki haben ein Veto eingelegt, was viele als Erpressung empfinden. Doch der niederländische Premier Mark Rutte blockiert auch; er will keine Abstriche am Rechtsstaat machen.

In dieser verzwickten Lage kommt es – wie so oft – auf Merkel an. Auch die Krisenkanzlerin macht keine gute Figur. Alle heiklen Fragen hat sie von ihrem EU-Botschafter in Brüssel aushandeln lassen, Merkel hielt sich im Hintergrund. Nicht einmal zu Gesprächen mit dem Europaparlament war sie bereit.

Im Streit mit Ungarn und Polen spielt Merkel auf Zeit. Statt sich laut vernehmlich für die Rechtsstaatsklausel einzusetzen, setzt sie auf Geheimdiplomatie. Die EU-Kommission in Brüssel darf die „Folterwerkzeuge“ vorzeigen, also Budgetkürzungen und einen Ausschluss der Neinsager vom Corona-Hilfsfonds. Merkel schweigt.

Vielleicht geht die Taktik der Kanzlerin ja auf, vielleicht einigt man sich doch noch in letzter Minute. Ende gut, alles gut, wird es dann in Berlin heißen. Doch gar nichts ist gut. Die EU ist – das hat dieses katastrophale Jahr gezeigt – in einem desolaten Zustand. Und der deutsche Ratsvorsitz hat es nicht besser gemacht.

Das EU-Budget bleibt auf Kante genäht, für viele wichtige Aufgaben wie Gesundheit und Forschung steht nicht genug Geld zur Verfügung. Die ersten Finanzhilfen aus dem Coronafonds dürften erst im Sommer 2021 fließen – viel zu spät, um die zweite Rezession zu bekämpfen, in die halb Europa gerade rutscht. Zudem enden die Coronahilfen schon nach drei ­Jahren – zu früh, um die Wunden heilen zu können.

Die EU hat in diesem tragischen Jahr ihr wahres Gesicht gezeigt: Sie ist und bleibt ein Club der Egoisten. Nicht einmal der deutsche Vorsitz hat daran viel geändert. Die frommen Wünsche aus Berlin haben ihre Wirkung verfehlt.

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Eric Bonse
EU-Korrespondent
Europäer aus dem Rheinland, EU-Experte wider Willen (es ist kompliziert...). Hat in Hamburg Politikwissenschaft studiert, ging danach als freier Journalist nach Paris und Brüssel. Eric Bonse betreibt den Blog „Lost in EUrope“ (lostineu.eu). Die besten Beiträge erscheinen auch auf seinem taz-Blog
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7 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Es war ein frommer Wunsch, wie wir heute wissen."

    Wen wundert das bei dieser Gurkentruppe?

  • Zu welchen EVP-Fraktionen gehören die Parteien, die in Deutschland, Polen und UK den Regierungschef/in stellen?

    Vielleicht ist es wirklich so einfach: Krähe, Auge, aushacken; bilde einen Satz.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Ajuga:

      Und die Polnische Regierungspartei sind in der Konservativen und Reform Familie und Ungarn Fidesz EPP Mitgliedschaft ist ausgesetzt.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Ajuga:

      Die Tories haben die EVP schon länger verlassen und UK die EU.

  • Fragen über Fragen:



    1.) Woran liegt's ?



    a) An der jetzigen Generation der Politker, am 'Zeitgeist' ?



    b) An der mangelnden demokratischen Struktur der EU ?

    2.) Wie kommen wir da raus ?



    a) Und wo soll es hingehen und



    b) Wer kann uns die richtige Richtung weisen ?

    • @Grauton:

      Lass mich mal raten:



      Zu 1.): es 'kann' an der Macht der ökonomischen Profitreligion (mit den Börsen und Aktiemärkten) liegen?.. weil diese jegliche Humane Solidarität in Respekt von Frieden, Harmonie und Freundschaft, Ökologie und Klima für sich instrumentalisieren..



      Und a) und b) sind Opfer?



      Zu 2.): UMDENKEN?



      a)und b): Fridays for Future als neuer "THINKTANK" für Wege um die beginnende Katastrophe durch 1.) zu verhindern....?

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Doch der niederländische Premier Mark Rutte blockiert auch; er will keine Abstriche am Rechtsstaat machen.""



    ==



    Welche Einschränkungen möchte denn Eric Bonse am Rechtsstaat ermöglichen?



    Etwa die polnische Variante - ein unmenschliches Abtreibungsrecht, Entrechtung von Frauen und eindimensionale Ausrichtung der Richter und damit Einschränkung und anschliessende Auflösung der Gewaltenteilung?

    Oder die ungarische Variante - Ausrichtung des Staates auf Pfeilkreuzler und sonstige Faschisten?

    Oder aber die Brexitcountryvariante? Verlogene Brexitkampagne mit gefakten Argumenten bis zum Abwinken - um am Ende den Kontinent mit Clorhühnchen und ungesicherten Dienstleistungen mit einer Gesetzgebung abseits von europäischen Menschenrechten zu beglücken? (Brexitcountry tritt aus der europäischen Menschenrechtscharta aus)

    Oder geht es Eric Bonse darum, einen Weg zurück in ultranationalistische Kleinstaaterei zu finden -- weil sich in UK Länder wie Schottland, Wales und Nordirland aus guten Gründen aus der Britischen Union vorraussichtlich abspalten werden?



    Nicht die EU ist in Gefahr - sondern die Britische Union, die spätestens ab dem



    2. Januar Trumpsche Konflikte in unageahnter Schärfe unter sich austragen wird. (Im Mai wird die SNP in Scottland haushoch die Wahlen gewinnen)

    Aus diesen Konflikten sollte sich die EU durch einen konsequenten no-deal heraus halten.

    "".....für viele wichtige Aufgaben wie Gesundheit und Forschung steht nicht genug Geld zur Verfügung.""

    Darüber könnte man ja reden - ist nur ein merkwürdiger Zeitpunkt - an dem die EU sowohl Curevac (Erfinder der mRNA Impftechnik) und Biontech als wahrscheinlich erster Produzent von durch die EMA zugelassenen mRNA Impfstoff



    zum richtigen Zeitpunkt unterstützt hat - von dem Brexitcountry als erstes europäisches Land profitieren wird.

    Wäre es umgekehrt gewesen wäre (Astrazeneca) hätten die EU 27 Staaten wohl noch bis Pflaumenpfingsten warten müssen. Und das ist der Kern des britischen Problems.