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■ Europa und die Linke (8). Waren die Wahlsiege von Blair und Jospin ein linkes Wetterleuchten? Eine ZwischenbilanzDie sozialdemokratische Hilflosigkeit

Es könnte ja sein, daß bald ein Sozialdemokrat als deutscher Kanzler walten wird. Vier der fünf großen Nationen in Europa wären dann sozialdemokratisch geführt, die meisten kleineren dazu. Und es könnte auch sein, daß sich zum Euro-Jahr 1999 die Staaten entschließen müssen, eine gemeinsame Wirtschaftsregierung zu errichten. Sie wäre vonnöten, will man bald den Euro hart kriegen. Hart aber muß er werden, dafür sorgt schon der Dollar mit unerbittlicher Konkurrenz. Und wenn noch jemand an Sozialeuropa denkt, also an eine sozialpolitische Ordnung in Kombination mit einem gemeinschaftlichen Konfliktsystem für den Arbeitsmarkt, dann wäre eine Wirtschaftsregierung ohnehin erste Voraussetzung.

Man könnte daher auf die Idee kommen, daß europäische Politik demnächst in sozialdemokratischer Handschrift abgefaßt wird. Gibt es da nicht eine Sozialistische Internationale, der sie alle angehören? Und gibt es da nicht schon ein sozialdemokratisches Aktionsprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, verfaßt vom Sozialdemokraten Jacques Delors? Das Weißbuch der EU von 1993 wäre jedenfalls ein erstes Vehikel für eine gemeinschaftssozialdemokratische Wirtschaftspolitik.

Doch auf die Idee eines nun zum ersten Mal möglichen sozialdemokratischen Handelns für Europa kommt heute niemand mehr – nur gut drei Monate nach dem Doppelsieg von Blair und Jospin, der einige Erwartungspflänzchen für eine linke Wiederbelebung hatte sprießen lassen. Die sozialdemokratischen Regierungschefs beißen sich lieber die Zunge ab, als einen linken Weg in die europäische Zukunft zu beschwören.

Dabei gilt sozialdemokratisches Regieren wieder etwas in Europa. Man weiß zwar nicht genau, was sich die britischen und die französischen Wähler erhofft hatten, allzuviel war es aber wohl nicht. Doch sie sind bis jetzt nicht enttäuscht worden. Sowohl Blair wie Jospin, der letztere sogar aus dem Stand, konnten frisches und kompetentes Regierungspersonal mobilisieren, darunter zahlreiche starke Frauen in Schlüsselpositionen. In London und Paris regieren jetzt sprachfähige Leute, die das Dilemma ihrer jeweiligen Situation selbst benennen können und dem politischen Betonjargon ihrer Parteien entwachsen sind. Sie leisten sich Experimente und verstricken sich nicht gleich in dumme Lügen, wenn jene scheitern. Jospin ist es gelungen, mit seinen Leuten den Sumpfgeruch der Korruption aus der lange siechenden Mitterrand- Ära von heute auf morgen zu zerstreuen. Unverbraucht, tatendurstig und integer, so wünscht sich die Medienöffentlichkeit ihre Politiker. Sozialdemokratische Eigenart ist dabei wenig gefragt. Wurde sie auch nicht: Die Geldmärkte reagierten ten auf Jospins Programm – Blair hatte gezielt keines – ebenso wie auf die ersten Taten der beiden mit keinerlei Nervosität.

Was die beiden Regierungen in ihren ersten drei Monaten unternahmen, war nicht wenig. Es verschaffte ihnen bei Wählern und auf Märkten erfreuliche Kreditverlängerung. Blair nahm freilich vor allem in Angriff, was nicht sehr strittig ist, so die Kompetenzvermehrung der Nationalbank und die Dezentralisierung, die devolution, von Schottland und Wales, schließlich die Stärkung der Gemeindedemokratie. Unter Thatcher hatte ja der alte britische Staatszentralismus sogar noch zugenommen.

Jospin mußte es sich von Anfang an schwerer machen, muß auch bereits seine Koalition ziemlich strapazieren. Bei längst fälligen Umweltentscheidungen wie der Stillegung des Reaktors Superphénix und der Einstellung des Projekts Rhein-Rhone-Kanal grummelten Kommunisten und Gewerkschaften. Die schon angekündigte Preiserhöhung für Diesel mißfiel dem Finanzminister und den Lastfahrern und fällt unter den Tisch. Die in den vier konservativen Regierungsjahren brutal verschärfte Asyl- und Immigrationspolitik wird nicht ganz gekippt, sie wird nur rechtsstaatlich „pragmatisiert“. Entgegen dem Wahlversprechen werden die einschlägigen Gesetze nicht abgeschafft, zum Mißfallen der Grünen und des linken PS-Flügels. Es wird auch kaum etwas für mehr Steuergerechtigkeit getan. Die höchsten Einkommensgruppen werden weiter subventioniert, ebenso wie in Deutschland und Großbritannien. Sie tun dort wie hier nicht, was der Staat von ihnen dafür erwartet, nämlich investieren. Sondern sie spekulieren auf den Finanzmärkten und betreiben Steuerflucht – wie fast überall in Europa.

Bauchweh bereitet Jospin vor allem sein wichtigstes sozialdemokratisches Projekt: die versprochene Einrichtung von 700.000 Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, davon die Hälfte für Jugendliche. Das war angesichts von fast 25 Prozent jugendlichen Arbeitslosen unabweisbar. Dabei handelt es sich vor allem um Jobs, wie sie in Deutschland die Zivis machen. Die Wirtschaft – die ihrerseits viel zuwenig Lehrstellen anbietet – ist erbittert dagegen.

Teils tapferes, teils vorsichtiges sozialdemokratisches Regieren also, in Frankreich mehr als in Großbritannien. Neu daran ist, daß die Regierenden dem Publikum erklären, warum sie etwas tun und anderes nicht, warum sie Wahlversprechen nicht einhalten können. Das haben Konservative noch selten geschafft.

In der Hauptsache aber weichen britische wie französische Sozialdemokraten zurück, von den Deutschen erst gar nicht zu reden: Sie haben nicht nur keine politische Strategie, sondern suchen auch keine, um der zunehmenden sozialen Spaltung zu begegnen: derjenigen in eine Hochqualifizierten-Gesellschaft, die einstweilen noch den nationalen „Standort“ verteidigen kann, und in eine immer breitere Peripherie, die vom globalisierten Kapitalismus praktisch nicht mehr gebraucht wird. Nominelles Wachstum können die Staaten noch erreichen, wenn sie auf die Konsum- und Sozialfähigkeit eines Drittels der Bevölkerung verzichten. In Großbritannien leben seit gut zehn Jahren 22 Prozent unter der Armutsgrenze. In Frankreich sieht man es seit fünf Jahren, ängstigt sich auch, bleibt aber hilflos. In Deutschland nimmt man diese Drift nicht zur Kenntnis und wiegt sich in regressiven Träumen von der Wachstums- und Vollbeschäftigungsgesellschaft.

Gemeinsam ist den Sozialdemokraten in fast ganz Europa eines: Sie scheuen sich, das Unwort „Kapitalismus“ auszusprechen. Weil sie regieren müssen, wissen sie genau, was das ist. Aber ihre Selbstverleugnung ist stärker als ihr Wissen. Dahrendorf hat doch recht: Das sozialdemokratische Jahrhundert geht zu Ende – unter Führung der regierenden Sozialdemokraten. Claus Koch

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