Euphorie um Twitter: Es braucht Arschlöcher
Hochwasser! Terror! Revolution! Wer die Twitter-Euphorie nicht teilt, hat den Schuss nicht gehört. Wie bitte? Eine Polemik.
Es gibt Leute, die können mit Twitter etwas anfangen. Und es gibt Leute, die können das nicht. Vielleicht muss das so sein. Bis zu einem bestimmten Alter werden technologische Errungenschaften, und seien sie auch noch so atemberaubend, mühelos als notwendig oder wenigstens angenehm ins eigene Leben integriert.
Ab einem bestimmten Alter ist jede technische Errungenschaft nur noch überflüssig und eine beleidigende Erinnerung daran, dass der Fortschritt durch unser Desinteresse oder unser Unverständnis nicht aufzuhalten sein wird.
Unklar ist, wann genau dieses „bestimmte Alter“ erreicht wird. Klar ist, dass beispielsweise der türkische Ministerpräsident Erdogan es bereits überschritten hat: Seine Perspektive ist die des autoritären Potentaten. „Es gibt jetzt eine neue Bedrohung namens Twitter“, eröffnete er unlängst seinem verblüfften Volk. „Die besten Beispiele für Lügen können dort gefunden werden. Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung der Gesellschaft.“
Merkwürdig nur, dass er selbst eifrig twittert oder twittern lässt. Und typisch, dass diese Bemerkung eines „Bösen“ das soziale Netzwerk zu einem Instrument des Guten adelt.
Ohne Twitter wären wir ĺängst ertrunken
Die Titelgeschichte „Wo diskutiert man schlechter: Twitter oder Jauch?“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. Juni 2013. Darin außerdem: Der Tatort-Schauspieler Oliver Mommsen über seinen Bremer Kommissar Stedefreund und schräge Ermittler-Kollegen. Ein Gespräch mit der Humorforscherin Barbara Wild. Und: Warum eine indische Mutter ihre Tochter verhungern ließ. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Twitter werden im gesellschaftlichen Diskurs sogar von seinen Gegnern geradezu messianische Qualitäten zugesprochen. Wobei Gegnerschaft keine satisfaktionsfähige Position mehr ist. Wer die Euphorie nicht teilt, hat einfach den Schuss nicht gehört. Punkt. Der Kampf gegen die Flutkatastrophe? Ohne Twitter wären wir längst alle ertrunken. Sexismus in Deutschland? Vor #Aufschrei war das noch nie ein Thema. Der türkische Frühling? Ohne Twitter nicht denkbar.
Der arabische Frühling in Tunesien, Ägypten, Libyen? Hätte ohne soziale Medien nie stattgefunden. Schon fragt man sich, wie Menschen in der Geschichte sich überhaupt jemals sozial verhalten oder von ihren Unterdrückern befreien konnten – so ganz ohne die Segnungen sozialer Netzwerke.
Dass tatsächlich die Demonstranten vom Tahrir-Platz in Kairo den Kurznachrichtendienst als kryptomilitärischen Geheimdienst nutzten, „gefällt“ vor allem Nutzern in der westlichen Wohlstandssphäre. Es ist die Tapferkeit, außer Reichweite zu sein. Bürgerkrieg im digitalen Live-Mitschnitt, wo nicht Haubitzen und Jagdbomber, sondern die meisten „Likes“ und „Follower“ über Sieg und Niederlage entscheiden.
Arno Frank „Meute mit Meinung“. Ein kritisches Essay über Shitstorms, Flashmobs und andere Phänomene der digitalen Meute. Kein und Aber, Zürich 2013, 64 Seiten, 7,90 Euro.
Geht es noch kindischer, weltfremder? So könne man, meint beispielsweise Mercedes Bunz in ihrem Buch „Die digitale Revolution“, minutiös nachverfolgen, wann über welche Zufahrtsstraßen welche Panzer ins Zentrum der ägyptischen Hauptstadt gerollt und in welche Seitenstraßen daraufhin die Demonstrierenden ausgewichen seien.
„Lasst uns das Schwein tot hauen!“
Und was genau ist damit gewonnen? Überblick? Eine Revolution? Oder doch nur das ebenso zweifelhafte wie schmeichelhafte Gefühl, auf der richtigen Seite gestanden zu sein? Dass der Schuss, den manche angeblich nicht gehört haben, auch nach hinten losgehen kann, zeigte die Jagd auf die Bombenleger von Boston. Sehr schnell, viel schneller als die Behörden, hatte der Schwarm einen vermissten (und später tot aufgefundenen) Studenten als Täter erkannt – und damit dessen Familie das Leben zur Hölle gemacht.
Und als nach einem Kindermord in Emden ein (unschuldiger) Verdächtiger gefasst worden war, versammelte sich ein immerhin 50-köpfiger Lynchmob vor der Polizeiwache, der dem Facebook-Aufruf „Aufstand. Alle zu den Bullen. Da stürmen wir. Lasst uns das Schwein tot hauen!“ gefolgt war.
Das sind keine Betriebsunfälle. Das ist schlicht die Kehrseite einer Technologie, über die gesprochen werden muss. Selten war unser Bestes, selten aber auch unser Schlechtestes so umstandslos zutage gefördert. Von den Opfern des anonymen Cybermobbings soll gar nicht erst gesprochen werden, auch nicht von dem ozeanischen Dünnpfiff, den die meisten parasozialen und hyperbanalen Alltagstweets darstellen.
Dieser Ozean entfaltet seine wahre Wucht, wenn er sich zu Empörungswellen auftürmt. Für einen Shitstorm, auch für den angeblich „gerechten“, braucht es kein kulturelles Hintergrundwissen, keine politischen Überzeugungen, keine fundierte Meinung und nicht einmal mehr Mut. Nur Arschlöcher.
Was meinen Sie? Wird Twitter überbewertet? Oder sollten wir froh sein, ungefilterte Informationen aus Istanbul und Kairo zu bekommen? Was sind Ihre Erfahrungen? Schon mal einen Shitstorm erlebt? Oder selbst angezettelt? Wir freuen uns über Ihre Meinung. Diskutieren Sie mit - hier auf taz.de.
Und gibt es überhaupt noch einen öffentlichen Ort, an dem spannende Debatten möglich sind? Im Polittalk von ARD und ZDF? Bei Jauch etwa? Unser Autor Arno Frank hat ein Experiment versucht - vier Wochen lang. Die Titelgeschichte „Wo diskutiert man schlechter: Twitter oder Jauch?“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. Juni 2013.
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