Estland startet globale Lösungssuche: Hacks gegen Corona
Die Coronakrise verlagert vieles ins Netz – auch die Suche nach Lösungen für Probleme, die durch die Pandemie entstanden sind.
Tootsman kann nicht fassen, was sich gerade abspielt. „Wir konnten uns im Traum nicht vorstellen, dass die Idee global wird, dass sie so einschlägt – ich habe da keine Worte für“, meint sie beim Videoanruf und schüttelt ungläubig den Kopf, schlägt die Hände vor das Gesicht. Sie spricht schnell, mitreißend. Das, was Tootsman nicht fassen kann, begann am Donnerstag, dem 12. März. Idee und Umsetzung dauerten sechs Stunden. Am nächsten Tag startete der Online-Hackathon – und wurde unerwartet global: Über 1.000 Teilnehmer*innen aus über 20 Ländern und 15 Zeitzonen waren dabei. Auch Deutsche.
Noch an diesem Donnerstag im März hatte Tootsman, die bei Accelerate Estonia – einer Plattform für Ministerien, den öffentlichen und privaten Sektor, um Innovationen zu fördern – arbeitet, einen Anruf von Kai Island von Garage48 – ein Start-up, das eine Art Silicon Valley in Estland aufbauen will – bekommen: „Kannst du ein bisschen helfen?“ Heute sei dies ein Joke. „Wenn Kai dich fragt, ob du ein bisschen Zeit hast, renne so schnell du kannst“, lacht Tootsman. Denn 17 Stunden arbeitet sie nun am Tag. Ehrenamtlich, wie alle im Team. Anfangs waren sie zu fünft, nun sind sie mehr als 20. Beim Hackathon im März entstanden 30 Ideen. Acht davon sind bereits umgesetzt.
Darunter ein vom estnischen Staat anerkannter automatisierter Chatbot „Suve“, der vertrauenswürdige Informationen zur Coronakrise liefert, eine Plattform, auf der Firmen, die momentan keine Arbeit haben, ihre Arbeiter*innen ausleihen können an Firmen mit viel Arbeit. Eine weitere vermittelt medizinisches Personal.
Hoffnung in der Krise
Dann der Schneeballeffekt: Innerhalb einer Woche wuchs die Bewegung auf 100.000 Interessierte aus dem öffentlichen Dienst und Programmierer*innen in 47 Ländern an. Indien, Georgien, Brasilien oder auch Deutschland starteten jeweils einen lokalen Hackathon. Hierzulande wurde es einer der größten mit über 20.000 Teilnehmer*innen. Der „Global Hack“ vom 9. bis 12. April ist nun im Kern wieder von Estland aus organisiert.
Die globale Coronakrise sei „gruselig und traurig: Die ganzen Kranken und Toten“, findet Tootsman. Sie will den Menschen Hoffnung geben und anpacken. Das analoge Leben ist überall heruntergefahren. Im Netz geht es dagegen ab. „Online ist momentan der beste Ort, um sich zu vernetzten und unser Leben in dieser Situation zu optimieren.“
Dass die Idee ausgerechnet im kleinen Estland entstand und sich von dort aus wie das Coronavirus weltweit verbreitet, sei „typisch estnischen Dingen“ zu verdanken – da sind sich Tootsman und ihre Mitstreiterin Katharina Sowa einig. Sowa kommt aus Deutschland, arbeitet aber nun in Tallinn für eine Softwarefirma. Estland sei klein, schnell und offen. Die Start-up-Szene gut vernetzt. Jeder kenne jeden. „Da ist es leicht, etwas auf die Beine zu stellen. Wir nennen das die Estland-Mafia“, erzählt Sowa.
Verrückte Ideen
Zudem sei der öffentliche Sektor Estlands „verrückte Ideen“ gewohnt, meint Tootsman. Die Mentalität der Est*innen in Krisenzeiten: „Lass es uns ausprobieren mit dem, was wir haben, wenn es nicht funktioniert, machen wir es halt anders“, erklärt Sowa ihre estnische Erfahrung. Estland sei ein „digitales Wunderkind“. In der Coronakrise ins Homeoffice zu wechseln oder Schule online zu veranstalten – das sei für die Esten „kein großes Ding“, im Gegensatz zu Deutschland, grinst Sowa.
Motivierend sei auch die große Unterstützung durch die Politik. „Unsere Präsidentin Kersti Kaljulaid und der Ex-Präsident Toomas Hendrik Ilves investieren sehr viel Zeit. Sie sind auch am Wochenende erreichbar.“ Der Unterschied zu früheren Hackathons sei, dass private und öffentliche Akteure an einem Strang ziehen, erklärt Tootsman.
Den „Global Hack“ unterstützen so der Schachweltmeister Garry Kasparowv und der Chef von OpenAI – ein Unternehmen, das künstliche Intelligenz erforscht und unter anderem finanziert wird durch Microsoft und den Unternehmer Elon Musk, der PayPal und Tesla mitgründete, sowie die Europäische Kommission und die Vereinten Nationen. 195.000 Euro stehen nun allein für die Gewinnerideen zur Verfügung.
Tootsman ist überzeugt: „Die vielen Ideen werden das Leben, wie wir es kennen, nachhaltig verändern.“ Über 7.000 Menschen tauschten online von Anfang April bis Donnerstagmittag bereits knapp 600 Projektideen aus. Etwa die nächste Pandemie verhindern durch eine Kampagne gegen den Verzehr von Wildtieren und das Vordringen in ihre Lebensräume. Oder eine leicht zu bedienende Webkamera für alte Menschen, damit sie mit der Familie in Kontakt bleiben können. Teams aus Spezialist*innen tüfteln ab Donnerstagnachmittag bis Sonntag an Lösungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!