Essen nach dem Brexit: So schmeckt Great Britain
Die englische Küche hat nicht den besten Ruf. Völlig zu Unrecht, finden unsere Autor*innen. Dreizehn Liebeserklärungen.
Am 31. Januar tritt Großbritannien aus der EU aus. Was für ein Verlust – nach Ansicht unserer Genussexpert*innen vor allem auch kulinarisch!
Ein Brei, der Frieden bringt
Die Welt ist kalt. Und vor einem Morgen sind wir alle gleich: verletzlich, wehleidig, zerknautscht. Immer wieder Trennung im Zeitraffer: Verleugnung, Wut, Verhandlung, Depression, Akzeptanz. Heilung braucht Zeit, Zeit ist knapp. Also hilft nur: Brei. Warmer Brei, Haferbrei. Oh Porridge, my love! Wer raus soll in die Kälte, muss die Wärme mit sich tragen. Am besten im Magen, für Herzenssachen ist es zu früh. Porridge ist kurz Verhandlung, dann nur noch Frieden. Und Frieden ist genug. Brei löst kein Problem, aber klebt dich zusammen. Kein Kauen, kein Beißen, nur Schlucken. Pragmatisch, praktisch, gut. Thanks, Porridge, forever yours. Lin Hierse
Lecker aufs Brot geschmiert
Den echten hard stuff zum Frühstück gibt es nur im Vereinigten Königreich, nämlich Bitterorangenmarmelade, wie sie sein muss: thick cut und extra-extra bitter. Sie ist der beste und beliebteste Brotaufstrich, den England zu bieten hat – neben Marmite. Das ist schwarz wie Rübensirup, schmeckt aber wie Brühwürfel und bietet allerhöchstes Suchtpotenzial. Jörn Kabisch
Die perfekte Balance auf der Zunge
Tausende Geschmacksknospen sitzen wie Tulpenzwiebeln in unserer Zungenschleimhaut und erkennen, was wir schmecken: süß, sauer, bitter, salzig, fettig oder umami, also herzhaft. Die Intensität eines Geschmackes kann dabei einen anderen beeinflussen. Eine versalzene Salatsoße etwa lässt sich mit Zitronensaft und Zucker noch retten. Und eine Packung saure Gummischlangen komplett aufzuessen, ohne dass einem übel wird, ist fast unmöglich – wechselt man sie aber mit Salzstangen ab, klappt es! Noch glücklicher machen nur Salt and Vinegar Chips – oder richtiger: Crisps. Essig ist in England spätestens im 20. Jahrhundert die traditionelle Sauce zu Pommes – also Chips, die Dauerhaltbarmachung in Crisp-Form ein logischer Schritt. Und eine großartige Idee: Die Säure des Malzessigs balanciert die salzig-fettige Kartoffelnote perfekt aus. Luise Strothmann
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Luftig-leichte Karamellschwere
Meine Mutter ist Engländerin und als Kind habe ich an jedem Geburtstag und an Weihnachten von meinen Großeltern Schokolade geschickt bekommen. Das war für mich immer etwas Besonderes, fast wie ein exotisches West-West-Carepaket. Was mir damals als Königin aller Süßigkeiten erschien, wie eine harte Währung, wie kleine Goldbarren, sind Crunchies: Schokoriegel mit einer Füllung aus honeycomb toffee, luftig-locker und schwerst gedrungen-karamellig zugleich. Es ist fast poetisch, wie das Innere zuerst kracht („cruncht“) beim Abbeißen und dann förmlich auf der Zunge schmilzt, man will immer mehr, bis der Zuckerschock einsetzt. Andrew Müller
Vorsicht, Mars und fettig!
Sehr, wirklich sehr vieles wird besser, wenn man es in Teig tunkt und dann in heißem Fett ausbackt. Auf das Frittieren verstehen sich die BritInnen besonders gut. Man muss ja nicht gleich ein ganzes Weihnachtsmenü mit Rosenkohl und Truthahn in brodelndes Öl werfen, wie manch ein Imbiss in Schottland oder Nordengland es im Dezember tut. Aber nehmen Sie Schokoriegel: Deep Fried Mars Bar klingt pervers, ist aber ein britischer Geniestreich. Außen umgeben von einer dünnen Bierteig-Knusperschicht, gern auch mitfrittiert im Fish+Chips-Bratfett, vermischen sich im Inneren des Ganzen Schokolade und Karamellcreme zu einer warmen, weichen Masse, die auf hinterlistige Art und Weise viel fluffiger schmeckt, als sie dann später tatsächlich im Magen liegt. Eva Oer
Der Name, ein Gedicht
Unter den Top 3 der schönsten Speisebezeichnungen der Weltküche findet sich neben „Der Imam fiel in Ohnmacht“ und „Der Buddha springt über die Mauer“ ein englisches Gericht: Toad in the Hole. Die „Kröte im Loch“ sind in Rührteig versenkte, gebackene Würstchen und die schmecken so märchenhaft, wie sie klingen. Jörn Kabisch
Süß-salzige Synthese
Sie müssen aus der Tiefkühltruhe direkt in den Toaster. Denn nur dann werden Toasties so schön duftend knusprig. Neben dem in Dreiecke halbierten Stück Gluten liegt die für mich größte Aufregung: Butter. Mit Salz. Ein britischer Standard, der unverständlich macht, dass Butter ohne Salz überhaupt als vollständig gelten kann. Das zerlaufene, salzige Fett verteilt sich im Mund, läuft auf und unter die Zunge, bis an das hinterste Gaumenende, während die Oberflächenstruktur des süßen Toasts unter dem Druck meines Bisses nicht einmal, sondern an jedem Millimeter bricht und diese bescheidenen Zutaten in einer so lovely Synthese aufgehen. Hellen Vogel
What a Mess!
In einem überfüllten Pub, im Herzen Londons, habe ich die himmlischste Süßspeise der Welt gegessen. Eine Mischung aus roten Beeren, Schlagsahne und zerbröselten Baisers türmte sich auf meinem mit rosaroten Blümchen verzierten Dessertteller. Ein wahres Chaos, ein wahres Eton Mess. Wie einfach es doch sein kann, aus so wenigen Zutaten eine süße Verführung zu schaffen. Am nächsten Tag stand ich mit einer Tupperdose vor Jo, dem Wirt, und habe mir eine Portion einpacken lassen. Diese Köstlichkeit wollte ich unbedingt im Handgepäck nach Deutschland schmuggeln. Soweit kam es leider nicht. Ich verspeiste sie noch auf dem Weg zum Flughafen. Denise Klein
Es gehört einfach dazu
Wie sich Glück anfühlt? In der Cafeteria irgendeines Landhauses des National Trust sitzen, einen Garten angeguckt haben, und dann kommen da alle zusammen und trinken Tee und essen Scones und das ist wunderbar. Und dabei ist es egal, ob die Teiglinge „Skonns“ oder „Scouns“ ausgesprochen werden, nur luftig müssen sie sein, dazu gibt es Marmelade und Clotted cream, die zwar etwas seltsam ist, aber auch sie gehört dazu. Ein ganzes Land schöpft so Kraft und ist anschließend bereit für den Book Shop, wo es Bücher mit Gartentipps von Vita Sackville-West kauft (wenn es sich um Sissinghurst Castle handelt) und lernt, dass sie Blumenzwiebeln über die Schultern ins Beet geworfen und so die schönsten Blühlandschaften erzeugt hat. Felix Zimmermann
Instagram-unkompatible Innereien
„Fair fa’ your honest, sonsie face“ – warum nur sprach Schottlands Dichter Robert Burns in seiner „Ode an einen Haggis“ zuerst das Aussehen desselben an? Ein Haggis ist nämlich nichts für Leute, bei denen das Auge allzu sehr mitisst. Alle anderen befördert er direkt in ein friedvolles Hausmannskost-Nirwana: Haggis ist eine Art Grütze mit Schafsinnereien, gemahlenem Hafer und Zwiebeln, am besten serviert mit cremigem Püree aus Steckrüben und Kartoffeln an einer sahnigen Whiskeysoße – eine Komposition aus Beigetönen, deftig und salzig, sodass man im Pub dazu dringend noch ein zweites und drittes Pint bestellen muss. Und weil er für Instagram so komplett ungeeignet ist, kann man sich umso besser auf den Geschmack konzentrieren. Eva Oer
Mehr Sterne als die EU-Flagge
Die besten Pommes kommen von der Insel. Das Rezept: Kartoffelstreifen kochen, einfrieren, frittieren (130 Grad), wieder einfrieren, wieder frittieren (180 Grad). Die Pommes verlieren dabei fast jede Feuchtigkeit und bekommen eine feine Kruste. Erfinder ist Heston Blumenthal, 3-Sterne-Koch und ein Vertreter der Molekularküche, nicht ganz so bekannt wie Ferran Adrià, aber mindestens so einflussreich. Sein Restaurant „The Fat Duck“ liegt nahe London in Bray an der Themse und ist der Beweis, dass die Briten auch Haute Cuisine beherrschen. Einer von sehr vielen Beweisen übrigens: 69 Michelin-Sterne waren 2019 allein auf London verteilt. Einzig Paris hatte von den europäischen Städten mehr. Jörn Kabisch
Die Schokolade der ewigen Jugend
Das Dreieck in Grün, der kleine Goldbarren, der orangefarbene Kreis oder doch lieber die Praline in Königsblau? Wenn ich meine Großmutter besuchte, stand an den glücklichsten Tagen eine Blechdose von Quality Street auf dem Tisch. Die Tante aus London hatte sie geschickt und ich war im Pralinen-und-Bonbon-Himmel. Heute weiß ich, dass die ikonischen Figuren auf dem Deckel der Dose (damals – im Jahr 2000 wurde das Design verändert) die Hauptfiguren „Major“ und „Miss“ aus einem Theaterstück von Peter-Pan-Erfinder J. M. Barrie sind. Ein bisschen dieses unwiderstehlichen Pan-Zaubers muss auch auf die Schokoladenteilchen aus Halifax abgefärbt haben. Anna Fastabend
Reingehaun!
„Eat lots of cake“ rief mir im letzten Jahr ein Pensionsbesitzer in Brighton hinterher, als ich mich zum Spaziergang aufmachte. Ich habe auf ihn gehört und will nun selbst jedem, der nach Großbritannien fährt, mantraartig einflößen: „Iss viel von den herrlichen Kuchen und Keksen dort! Knabber mindestens ein Millionaire's Slice aus mürbem Keksboden, klebrigem Karamell, dicker, knackiger Schokoschicht! Überhaupt, Shortbread, krümeliges, wunderbar buttriges Shortbread! Iss alle Bakery-Auslagen leer, iss vor Weihnachten alle Mince Pies, die reingehen!“ Aber das wäre dann doch zu seltsam. Eva Oer
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