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Essayband von Schriftsteller Teju ColePersönlich, aber nicht privat

In seinen Essays entdeckt Cole in der westlichen Tradition heilende Kräfte. Sie sollen auch wirken, wo koloniale Machtverhältnisse noch fortbestehen.

Besser man fragt nicht, wer, sondern wo dieser Mann gerade ist: Teju Cole Foto: Stefan Boness

Eines der großen Themen zeitgenössischer Literatur ist die Identität. Herkunft, Geschlecht, Sexualität, Zugehörigkeit, all das sind uralte Sujets, neu ist, dass Figuren und Erzähler nicht mehr lediglich von ihnen berührt und motiviert werden, sondern sie nun selbst Kampfplätze dieser Kräfte sind. Der zentrale Konflikt ereignet sich da, wo jemand noch nicht ist oder sein darf, was seiner Eigentlichkeit entspricht. Oder dort, wo er gegen ebendiese Bestimmung rebelliert.

Der Schriftsteller Teju Cole steckt mittendrin und leibhaftig in diesen Diskursen. Geboren in Michigan, zog er bald mit seiner Familie nach Lagos. Als Kind blätterte er durch Bildbände, zeichnete und malte unaufhörlich, war in Gedanken bei den Alten Meistern. Später, zurück in den USA, lernt er auf Druck seiner Umwelt, dass er ein „Afrikaner“ sei, freilich ohne zu wissen, was das zu bedeuten hat. Auch schwarz und – im kulturellen und politischen Sinne verstanden – „Schwarz“ zu sein, musste er erst erlernen.

Es sind dies Identitätsmerkmale, die während seiner Sozialisation in Nigeria keine Rolle gespielt hatten und die ihm aber nun beides werden: Fremdzuschreibung, eine oktroyierte Lesart der eigenen Existenz ebenso wie ein Anlass, sich in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Erwartungen selbst zu ent­werfen.

Heute ist Cole ungeheuer viel: Nigerianer und US-Amerikaner, Fotograf, Kurator, preisgekrönter Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben an der Eliteuniversität Harvard. Doch muss eine Leserschaft all diese Attribute in einer Zeit der autofiktionalen Zeugnisse als oberflächlich betrachten. Wer ist dieser Mann also wirklich? Cole verweigert über weite Strecken seines Essaybands „Black Paper. Schreiben in dunkler Zeit“ eine Antwort. Er erzählt persönlich, doch nicht privat.

Weltbürger, mit Betonung auf dem Wort

Selbst in intimen Momenten, wenn er trauert, wenn ihn die Wut ergreift, wenn er nachts in einem Hotelbett masturbiert, hat man nicht den Eindruck, einen ganzen, baren Menschen zu erkennen, sondern nur, gleich einem fotografischen Negativ, all die Eindrücke und Einfälle, die seine Umwelt in Seele, Kopf und Körper prägen.

Besser also man fragt nicht, wer, sondern wo dieser Mann gerade ist. Zahlreiche seiner Essays sind auf Reisen entstanden, sind Selbsterkundungen im Modus der Irrfahrt. Cole hält sich mal in New York, mal in Benin, Beirut, Oslo, Neapel, Malta oder Berlin auf und findet zumeist rasch einen Zugang zu diesen Orten. Ein Weltbürger präsentiert sich hier, mit Betonung auf dem zweiten Teil des Wortes. Die Welt erscheint vor seinen Augen wie ein Ensemble bürgerlicher Repräsentationsmerkmale.

Der studierte Kunstgeschichtler klappert alle Museen und Galerien ab, bestaunt die Kathedrale von Florenz oder genießt Brahms’ Violinkonzert in der Berliner Philharmonie. Intellektuell anregend ist diese Odyssee, weil am Horizont der historisch zentrale Konflikt identitätspolitischer Debatten aufscheint. Die großen geistigen Errungenschaften des Westens – Universalismus, Demokratie, Nation, Menschenrechte, Kunstautonomie – stehen seit einigen Jahren zur Disposition, weil sie nicht ohne ihre Schattenseiten, die koloniale Ausbeutung anderer Weltteile, Rassismus, Versklavung und Aneignung zu denken seien.

Das Buch

Teju Cole: „Black Paper. Schreiben in dunkler Zeit“. Aus dem Englischen von Anna Jäger und Uda Strätling. Claassen, Berlin 2023, 320 Seiten, 24 Euro

Die Freiheit des abendländischen Bürgers, also des Rollenmodells für das moderne Subjekt schlechthin, sei erkauft worden mit der Entrechtung der anderen. Die Fronten in diesem Konflikt könnten klar sein für einen politisch nicht schwer zu verortenden Künstler wie Cole. In einem Kapitel zu Donald Trump spricht er ganz offen vom „Bösen“, in einem anderen ruft er mit ungebrochen amerikanischem Pathos zum Widerstand auf.

Cole fordert das westliche Erbe heraus

Doch geht er nicht so weit wie jene Aktivisten, die Humanismus und Aufklärung als Instrumente der Knechtung verabschieden. Cole fordert das westliche Erbe vielmehr heraus, bringt es in Resonanz mit der Gegenwart. In einem Text würdigt er abwechselnden zwei seiner Helden: Ludwig van Beethoven und Edward Said, Gründungsvater der postkolonialen Theorie.

Unter dem Stichwort der Differenz treffen sie hier aufeinander, Cole umspielt das musikalische wie politische Motiv und will wohl darauf hinaus, dass der Wiener Klassiker und der palästinensische Rebell in der Tiefenstruktur genug gemein haben, um das jeweilige Werk als Schlüssel des anderen zu verstehen.

Eine Mitstreiterin Saids, Gayatri Chakravorty Spivak, verglich die Aufklärung einmal mit einem Kind, das aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sei, und das man dennoch lieben müsse. Ist es das, was Cole hier versucht? Eine Aussöhnung mit dem bösen Erbe, auf das man nicht verzichten darf und will? Auffällig ist jedenfalls sein Ehrgeiz, in der westlichen Tradition heilende Kräfte zu entdecken, die auch dort ihre Wirkung zeitigen, wo koloniale Machtverhältnisse bis heute fortbestehen.

Ich öffne mich, um mich von der ‚Bewusstseinsbildung‘ zu lösen und mich der ‚Zeugenschaft‘ zu nähern

Teju Cole

Intellekt und Emotion unterstützen einander bei diesem Unternehmen wechselseitig, das Gefühl fundiert ethische Dringlichkeiten: „Genau deshalb reise ich, lese ich, interessiere ich mich für die Kunst: um zu ergründen, zu empfinden, zu erzittern.“ Und weiter: „Ich öffne mich, um mich von der ‚Bewusstseinsbildung‘ zu lösen und mich der ‚Zeugenschaft‘ zu nähern, näher ranzukommen, zu fühlen, was ich dort fühle (wo immer ‚dort‘ sei), zu beachten, was meine Sinne mir zutragen, und es in gemeinsame Verantwortung zu überführen, in das Wissen, dass mein Körper – unsere Körper – genau dafür gerüstet sind.“

Literatur und Malerei vermögen zu bilden

Das klingt wie ein Angebot, dem diskreditierten Universalismus zu neuen Ehren zu verhelfen. Nun jedoch nicht mehr als Annahme der Gleichheit aller Menschen vor der Idee einer allgemeinen Würde. Vielmehr geht es Cole darum, sich offen zu halten, die Sinne zu schärfen, um diese Gleichheit in der allgegenwärtigen Gefährdung der menschlichen Kreatur wahrnehmen zu können. Kein genialer Geist, kein Kant, Hegel, Goethe oder Schiller stiftet somit die Erkenntnis, alle Menschen wären Brüder.

Literatur und Malerei vermögen jedoch in einer Weise zu bilden, dass man ein Elend bemerkt und entsprechend zu reagieren weiß. Coles ästhetische Analysen verpflichten sich folgerichtig der Forderung, Moral und Sinnlichkeit zu vereinen. Kunst im Allgemeinen erscheint bei ihm als ein Instrument zur Schulung eines Körpers, der natürlicherweise zu Empathie und Solidarität neigt.

In einem Text entdeckt er in Gemälden Caravaggios ein Wissen um das Unglück der Geflüchteten, die 400 Jahre nach dem Tod des Meisters an die Küsten Italiens gespült werden. Ohnehin ist die Bildwerdung des Leibs, insbesondere des versehrten, für Cole von größtem Interesse.

In einem Essay zur Kriegs- und Krisenfotografie reflektiert er in Anlehnung an ein berühmtes Buch von Susan Sontag, was es bedeutet, das Leid anderer zu betrachten. Die Enthüllung politischer Ungerechtigkeit legitimiert ihm zufolge nicht in jedem Fall die Entblößung ihrer Opfer. „Zu den Menschenrechten gehört auch das Recht, undeutlich, ungesehen und im Dunkeln zu bleiben.“

Schatten, denen sich Cole in mehreren Texten in ästhetischer und politischer Hinsicht widmet, dürfen somit als Schutzzonen verstanden werden, als Orte, an denen Menschen Zuflucht finden, vor Gewalt, vor Blicken, vor Zuschreibungen. Womit schließlich die Frage zu beantworten wäre, wer dieser Mann namens Teju Cole eigentlich ist. Einer, der die Schatten zu schätzen weiß. Einer, der lieber all seine Sinne nutzt, als selbst gesehen zu ­werden.

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2 Kommentare

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  • (2. Teil)



    Infolgedessen lehnt Cole den damals verbreiteten Solidaritäts-Slogan „Je suis Charlie“ vehement ab. Nicht nur das, er stellt die Opfer auch noch auf eine Stufe mit Neonazis: Wer den Anschlag verurteile, müsse die Ideologie der Opfer nicht teilen; wenn man sich für das Demonstrationsrecht einer Neonazi-Gruppe einsetze (wie es die amerikanische Bürgerrechtsorganisation A.C.L.U. 1978 „zu Recht“ getan habe), verteidige man damit ja auch nicht deren Ansichten.



    Geschmacklosigkeiten, Täter-Opfer-Umkehr durch Verunglimpfung der Ermordeten, Verharmlosung der Taten durch Relativierung: Mir ist nicht bekannt, dass Cole seine damaligen Positionen je revidiert hätte. Im Gegenteil: Keine vier Monate später lehnt er es ab, an der Verleihungs-Gala des „Freedom of Expression Courage Award“ an Charlie Hebdo durch den amerikanischen PEN teilzunehmen. Mehr als 200 amerikanische Autor*innen unterstützen seinen Protest. Darüber (und über die angebliche „Islamophobie“ von Charlie Hebdo) ist damals genug geschrieben worden, auch in der taz. Deshalb gebe ich hier nur meiner Hoffnung Ausdruck, dass der/die eine oder andere auch ganz froh gewesen sein wird, nicht mit diesem geistigen Irrfahrer an einem Tisch sitzen zu müssen.

  • (1. Teil)



    In seiner nur notdürftig als Rezension verkleideten Lobeshymne auf Teju Cole lässt Michael Wolf leider einen nicht ganz unwichtigen Aspekt aus. Am 9. Januar 2015, nur zwei Tage nach dem islamistischen Mordanschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, veröffentlicht Cole im „New Yorker“ einen Kommentar mit dem geschmacklosen Titel „Unmournable Bodies“ (etwa „Tote, die es nicht wert sind, betrauert zu werden“). Erst gegen Ende des Textes stellt Cole klar, dass er damit nicht die Ermordeten meint – zehn Redakteure, eine Reinigungskraft, ein Polizist –, sondern u.a. „Hunderte von Kindern (und mehr als ein Dutzend Journalisten), die im vergangenen Jahr in Gaza von Israel getötet wurden“, während sich der Westen nur auf den radikalen Islam als echten oder einzigen Feind konzentriere.



    Cole verurteilt zwar den Anschlag, verliert jedoch kein Wort über den Antisemitismus der Täter, die sich zu Al-Quaida bekannten (zwei Tage nach dem Charlie-Hebdo-Anschlag tötete ein weiterer islamistischer Attentäter in Absprache mit den Charlie-Hebdo-Killern vier jüdische Franzosen in einem Pariser Supermarkt). In Coles Kommentar gibt es nur einen einzigen Antisemiten, nämlich Voltaire. In Bezug auf die Opfer des Charlie-Hebdo-Anschlags ist er nicht so zurückhaltend: Die Zeitschrift habe sich zuletzt insbesondere auf rassistische und islamophobe Provokationen verlegt und verfolge eine „aggressive rassistische Agenda“; ihre Zeichner*innen seien keine Märtyrer, sondern Ideologen. („Derartige Aussagen“, kritisiert damals der in Paris lehrende Politologe Kolja Lindner, „drohen islamistische Terroristen geradezu in die Nähe antirassistischer Aktivistinnen zu rücken.“)