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Essay RechtspopulismusDiagnose mit zwei zentralen Fehlern

Die Linksintellektuellen entdecken die soziale Frage wieder. Doch den Rechtspopulismus wird das nicht zurückdrängen.

Wilders, Le Pen und Petry beim Treffen der rechtspopulistischen ENF-Fraktion Foto: dpa

Die Linksintellektuellen stecken im „Büßerhemd“ (Armin Nassehi). Erst kürzlich kritisierten Dirk Jörke und Nils Heisterhagen in der FAZ, dass die „Antidiskriminierungspolitik, Vielfaltseuphorie und politisch korrekte Sprache“ das Produkt einer verirrten linken „Eliten-Welt“ sei, die den „kleinen Mann“ vergessen habe und in der „Falle der Identitätspolitik“ (FAZ vom 26. 1. 2017) stecke. Die Linke müsse die soziale Frage wiederentdecken.

Diese Diagnose hat zwei zentrale Fehler: Sie ignoriert, dass der Erfolg des rechtspopulistischen Mobilisierungsmechanismus nur mittelbar etwas mit der sozialen Frage zu tun hat, und blendet aus, dass der normative Kern linken Denkens nicht die soziale Gerechtigkeit, sondern die Idee einer „freien Gesellschaft“ (Adorno) ist.

Die Wiederentdeckung der sozialen Frage wird den Rechtspopulismus nicht zurückdrängen. Denn die Parteien und Figuren, die sich einer Politik der sozialen Gerechtigkeit verschrieben haben, sind längst da: die Linkspartei in Deutschland, Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in England oder die PG und PCF in Frankreich. Und dennoch ziehen es viele Wählerinnen und Wähler vor, den Rechtspopulisten ihre Stimme zu geben. Wie ist das zu erklären?

Was Le Pen, Trump oder die AfD bei aller Verschiedenheit gemeinsam haben, ist, dass sie ihre politische Bewegung als eine darstellen, die im Dienste des „wahren“ Volkes und gegen die Eliten agiert. Die Partikularität ihrer eigenen Interessen wird durch einen aggressiven Antipluralismus verschleiert, der alle abweichenden Sichtweisen als Betrug am Volk diffamiert.

taz.am Wochenende

Sie steigen aus. Jahrelang hatten Wolfgang Bosbach, Jan van Aken und Bärbel Höhn Macht und Einfluss im Bundestag. In der taz.am wochenende vom 25./26. Februar sprechen sie über das Innerste der deutschen Politik. Außerdem: Eine Reportage über das erste afrodeutsche Prinzenpaar und seine jecke Integrationswerbung im Karneval. Und eine Spurensuche: Die EU zahlt Milliarden für den Flüchtlingsdeal, aber wohin geht das Geld? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Dass dieser Mobilisierungsmechanismus greift, zwingt uns die politische Subjektkonstitution der Bürgerinnen und Bürger kapitalistischer Demokratien kritisch zu analysieren, d. h. ihre politische Mentalität – denn für sie ist dieser Mobilisierungsmechanismus entworfen. Wer den Rechtspopulismus also verstehen will, muss das Subjekt des Rechtspopulismus kennen. Oder philosophiegeschichtlich formuliert: Ohne Nietzsche (und Freud) bleibt auch Marx blass. Auf diese Subjektkonstitution wirken neben der ökonomischen Struktur gerade auch psychische Entwicklungen ein, kulturelle und technologische Veränderungen, die Organisation des politischen Zusammenlebens und vieles mehr.

Das Subjekt des Rechtspopulismus

Was diese politische Mentalität heute in groben Zügen kennzeichnet, ist eine tiefe innere Gespaltenheit. Auf der einen Seite haben sich der Individualismus und die Imperative einer kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich in der Überzeugung niedergeschlagen, dass jeder Mensch, und vor allem jeder Politiker, nur seinen eignen Interessen nachgeht. All die parteipolitische Rhetorik von Solidarität und Zusammenhalt wird vor diesem Hintergrund bestenfalls als weltfremd eingestuft. Gemeinhin wähnt man einen politischen Blendungsversuch am Werk und wittert Heuchelei und Betrug.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Auf der anderen Seite setzt man redliches politisches Handeln mit dem Verzicht auf partikulare Interessen gleich. Politiker handeln der landläufigen Meinung zufolge dann redlich, wenn sie die Interessen der Gemeinschaft als oberste Richtschnur anlegen. Was „die“ Interessen „der“ Gemeinschaft sind und wie sie herauszufinden wären, wird nicht weiter problematisiert.

Eine derartige Sicht auf redliches politisches Handeln mag uns womöglich von einer unerfüllten Sehnsucht berichten, resultieren aber tut sie aus dem „Praxisentzug“ und der „politischen Erfahrungslosig­keit“ (Hanna ­Arendt) vieler Bürgerinnen und Bürger in modernen Demokratien: Selten oder nie sammeln Menschen die Erfahrung, dass demokratische Politik einen berechtigten Konflikt widerstreitender Interessen bedeutet. Selten oder nie machen sie die persönliche Erfahrung, dass ohne langwierige und zähe Prozesse des Über­redens, Überzeugens und Verhandelns Demokratie nicht zu haben ist.

So gerät der politische Alltagsbetrieb notwendigerweise in Verruf. Denn während es auf der einen Seite gemeinschaftsorientiertes Handeln der Politiker gar nicht geben kann – weil ein jeder vermeintlich nur an seinem eigenen Vorankommen interessiert ist –, wird die Redlichkeit des politischen Handelns an Kriterien festgemacht, die in einer pluralistischen Gesellschaft nie erfüllt werden können – weil es ein Interesse des Volkes nicht gibt.

Die politischen Eliten sind daher im Grunde bereits diskreditiert, bevor sie überhaupt agieren. Hinzu kommt, dass man vom politischen Apparat immerzu enttäuscht wird – und mit dieser Enttäuschungserfahrung die eigene Weltsicht bestätigt. Damit ist das Fundament einer politischen Kultur des Misstrauens gelegt.

Sprachpolitik und Kulturkampf

Rechtspopulisten instrumentalisieren dieses Misstrauen. Die zentrale Strategie hierfür ist, sich als überparteiliche Bewegung zu inszenieren, die an alle echten Franzosen, Amerikaner oder Deutschen appelliert, weil alles auf dem Spiel stehe. Eine solche Zuspitzung findet bei vielen Menschen Anklang, da sich mit ihr die weltanschauliche Botschaft transportieren lässt, Teil eines historisch bedeutungsvollen Projekts zu sein: Wir holen uns unser Land zurück! Make America great again!

Um diese Strategie umzusetzen, greifen sie auf Sprachbilder der Absolutheit, Ganzheitlichkeit und Totalität zurück – „die Islamisierung“, „die Brüsseler Diktatur“, „die Washingtoner Politikelite“. Solche Formeln suggerieren, dass „die Antworten auf der Hand liegen und keiner weiteren Konkretheit bedürfen“ (Gyburg Uhlmann). Das Zögern und Lamentieren der Politiker etablierter Parteien bestätige dann nur, dass es ihnen um die Interessen ihrer Klientel geht – und nicht um die des Volkes. Gleichzeitig rationalisiert diese Rhetorik eine Vielzahl an weit verbreiteten Ressentiments und kanalisiert Ängste, Wut und Affekte aller Art.

Was den Rechtspopulismus der Gegenwart zudem in besonderer Weise auszeichnet, ist die enge Verzahnung von intellektualisierter, aktivistischer und parlamentarischer Rechte. Die Bedeutung der Alt-Right-Bewegung und des rechten Nachrichtenportals Breitbart für die Trump-Administration oder Pegida und der Identitären Bewegung, Elsässers Compact oder Kubitscheks Sezession für die AfD sind nur zwei Beispiele hierfür.

Bild: privat
Christian Volk

ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politik und Recht am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. In seiner Forschung vereint er verfassungs-, politik- und gesellschaftstheoretische Analyse­perspektiven und geht derzeit der ­Frage nach, welche Bedeutung poli­tischer Protest in modernen Demo­kratien hat.

Eine Vielzahl politischer Fronten wird eröffnet, Synergien zwischen diesen genutzt. Der intellektualisierten Rechten kommt dabei die Aufgabe zu, Begriffe zu liefern, mit denen sich Wirklichkeit neu deuten lässt – also das, was als normal und abnormal, vernünftig und unvernünftig, richtig und falsch zu gelten hat. Da diese scheinbar elementaren Wahrheiten auch und gerade durch die Sprache der Anderen, „der linksversifften Gutmenschen“, aus der Welt interpretiert wurde, ist rechte Politik – wie jede Politik – immer auch Sprachpolitik.

Reproduktion rechter Thesen

Tatkräftige Unterstützung erfährt diese rechte Sprachpolitik von den reumütigen Linksintellektuellen. Denn diese reproduzieren die Themen des rechten Kulturkampfes und machen sie so salonfähig: von der besserwisserischen Kritik an der „Willkommenskultur“ als naivem Akt einer moralisierten Mittelschicht über die vermeintlich linke „Minderheitenfixierung“ bis hin zum „Genderkram“.

Mit solchen Thesen beweisen Linkintellektuelle, dass sie die politische Funktion des rechtskonservativen Kulturkampfes nicht verstanden haben. Noch schwerer wiegt, dass sie den normativen Kern linken Denkens missachten, der im berühmten Diktum Adornos, „ohne Angst verschieden sein zu können“, zum Ausdruck kommt.

Und exakt um diese angstfreie Verschiedenheit und den Schutz der Integrität der eigenen Person zu realisieren, bemüht sich die Antidiskriminierungspolitik. Sie ist weder Teil einer (neo)liberalen Ideologie noch das Produkt einer verirrten linken „Eliten-Welt“, sondern inspiriert von der Idee einer „freien Gesellschaft“, in der die „angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen“ (Adorno) Wirklichkeit wird.

Antidiskriminierungspolitik gegen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ausspielen zu wollen ist daher – auch mit Blick auf die Geschichte linker Politik und linken Denkens – töricht.

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16 Kommentare

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  • Mir fällt ja auf, dass die meisten Kommentierenden schlicht den Text nicht ordentlich gelesen haben und trotzdem meinen, kommentieren zu sollen.

  • Wenn man sich diesen Artikel durchliest, sollte man eigentlich zu dem Schluss kommen, dass das Thema nicht richtig dargestellt wurde.

    Thema Verfehlt!

    Der Autor wollte über den Rechtspopulismus schreiben, hat aber in erster Linie auf die Missstände der Linken hingewiesen. Die sind aber nicht das Thema gewesen, sondern es sollte doch über die Rechtspopulisten gehen und weshalb die Menschen sich von denen angezogen fühlen. Wenn man die Zunahme der Wähler in diesem Bereich erklären will, sollte man nicht ständig versuchen einen bestimmten Verursacher zu suchen, sondern sich das Gesamtbild der Politik anschauen. Um das tägliche Leben mit der Politik zu beschreiben geht es doch um die Lebensumstände für die Menschen, die als Wähler die Politiker legitimiert haben Politik zu machen.

    Schaut man sich diese Politik genauer an, muss man unweigerlich feststellen, dass diese Art Politik zu machen nichts mehr mit den Wählern zutun hat, sondern ausschließlich um die Macht, die dafür sorgt, dass es in diesem unserem Land überhaupt ein, wenn auch für viele, zu viele, ein Aus -, bzw. Einkommen gibt, für die Wirtschaft und Industrie. Jeder Politiker folgt einer Anzahl von Lobbyisten eines bestimmten Klientel, aber nicht dem Auftrag der Wähler, der wäre, das Leben des Wählers Sicher und mit Freiheiten im Rahmen des Grundgesetzes zu gestalten.

    Solange die Politiker sich nicht wieder als Beauftragte der Wähler sehen, sondern sich weiterhin als Eliten eines Volkes mit uneingeschränkter Handelsfreiheit betrachten, werden es Menschen die eine andere politische Prämisse angeben leicht haben sich durch markige Sprüche, auch wenn sie noch so Falsch und Menschenverachtend sind, gehör verschaffen können, denn der Wunsch nach Veränderung des jetzigen Zustands ist riesig!!!

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "Sie ignoriert, dass der Erfolg des rechtspopulistischen Mobilisierungsmechanismus nur mittelbar etwas mit der sozialen Frage zu tun hat, und blendet aus, dass der normative Kern linken Denkens nicht die soziale Gerechtigkeit, sondern die Idee einer „freien Gesellschaft“ (Adorno) ist."

     

    Ich empfehle dem Autor die Vorträge vom Prof. Mark Blythe

     

    (z.B. https://www.youtube.com/watch?v=Bkm2Vfj42FY)

     

    der jenseits von jeglicher, typisch deutschen Adorno-Verblendung, gerade die soziale Frage als Grund für den Ausfstieg der Rechtspopulismus sieht.

     

    Sehr schön naiv auch die Behauptung vom Autor:

    "Denn die Parteien und Figuren, die sich einer Politik der sozialen Gerechtigkeit verschrieben haben, sind längst da: die Linkspartei in Deutschland, Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in England oder die PG und PCF in Frankreich."

     

    Linkspartei wird hierzulande sogar von einer linken (?) Zeitung wie taz für jede Kleinigkeit runtergemacht, Sanders wurde von den Korporatisten der eigenen Partei betrogen, Corbyns Pertairevolte war die Antwort auf die Blairites in der Partei und er selbst dem Brexit nicht abgeneigt. Zu Frankreich: was sind PG und PCF? Spass beiseite: die Franzosen haben doch ihr Land einem "sozialistischen" Präsidenten und "sozialistischen" Regierung anvertraut. Fool me once...

  • "Die Wiederentdeckung der sozialen Frage wird den Rechtspopulismus nicht zurückdrängen."

     

    Im Gegenteil, wenn irgendwas, dann das. Denn abgesehen davon, dass es jetzt 40 Jahre supi lief für die Ausbeuter, und es allmählich reicht, bedeutet eine menschenwürdige Politik ja viel mehr, nämlich die Rückgewinnung der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände für die Masse. Dass die Politikdarsteller selbst nicht regieren, sondern ebenfalls regiert und manipuliert werden, ist ein Vorwurf von rechtsaußen, aber er wird dadurch nicht automatisch falsch.

     

    "Denn die Parteien und Figuren, die sich einer Politik der sozialen Gerechtigkeit verschrieben haben, sind längst da: [...]. Und dennoch ziehen es viele Wählerinnen und Wähler vor, den Rechtspopulisten ihre Stimme zu geben. Wie ist das zu erklären?"

     

    Da kommen Sie nie drauf. Die genannten Parteien und Personen, zumindest die Linke, Sanders, Corbyn, wurden erbittert bekämpft, diskreditiert, das volle Programm. Gysi! durch den "Verfassungsschutz" beobachtet, ständige Medienhetze, Verfahrenstricks und Ausgrenzung durch alle anderen Parteien seit Gründung der Linken. Klar hat die Linke auch durch innere Widersprüche dazu beigetragen, welcher Verein würde das unter den Umständen nicht? Nichts von alldem mitgekriegt als Politikprofessor?

     

    Sanders wurde vom Democrats-Wahlkommittee eine Weile dem Wahlvolk hingehalten und dann abserviert, lange geplant. Auch vergessen? Weil er gezwungen wurde, seine Kandidatur zurückzuziehen, wurde er nicht gewählt!

     

    Bei Corbyn ähnliche Szenen: Hätte er nicht die massive Unterstützung der Basis, wäre er längst rausintrigiert worden, Versuche gab es genug.

     

    Erzählt uns doch keinen vom Pferd. Das ist kein Ideenwettbewerb, möge die Beste gewinnen. Das ist ein Schlachtfeld, und jeder noch so miese Trick wird eingesetzt, um die Gegner oft genug persönlich zu bekämpfen. Und wer die meisten Truppen hat, drückt der Öffentlichkeit seine Agenda ins Gesicht.

  • "Die politischen Eliten sind daher im Grunde bereits diskreditiert, bevor sie überhaupt agieren. Hinzu kommt, dass man vom politischen Apparat immerzu enttäuscht wird – und mit dieser Enttäuschungserfahrung die eigene Weltsicht bestätigt. Damit ist das Fundament einer politischen Kultur des Misstrauens gelegt."

     

    Gute Analyse, zumindest ansatzweise. Was fehlt ist die Rolle der 4ten Gewalt. Diese beteiligt sich munter am Betonmischen für das besagte Fundament des Misstrauens, weil es auch Ihr zuerst mal ums finanzielle Überleben geht und schlechte Nachrichten sich anscheinend besser verkaufen lassen.

  • 3G
    33523 (Profil gelöscht)

    Wie man auf die Idee kommen kann die Frage nach der Verteilung ökonomischer Güter sei nicht der Kern linker Denke ist mir schleierhaft. Marx Kapital hat sich um ökonomische Themen gedreht, die dann zwar auch soziale Auswirkungen beschreibt aber letztlich weicht er vom Kernthema, den materiellen Dingen, nicht ab.

     

    Adorno hat selbst gesagt das es eine “freie Gesellschaft” nur dann geben kann wenn man das Konzept des Tauschhandels überwindet, weil seiner Meinung nach der gesellschaftlich höher gestellte beim Handel stets einen unfairen Vorteil auf seiner Seite hat. Und noch wichtiger wäre hier die Frage: Was versteht Adorno denn unter einer “freien Gesellschaft”?

     

    Trump instrumentalisiert vor allem das Misstrauen in die Presse und die macht es ihm leicht. In den USA noch viel mehr als hier. Nicht nur bei der Berichterstattung, sondern auch bei administrativen Abläufen. Eine BBC z.B. die in Stellenausschreibungen “nicht weiß sein” als Erfordernis für bestimmte Positionen nennt braucht sich über Empörung nicht wundern.

    Nur mal ein inhaltlicher “Ausrutscher” der BBC: Es wurde eine emotionale Ansprache der Schwester eines von der Polizei erschossenen Schwarzen aufgezeichnet. Der konforme Teil wurde von der BBC ausgestrahlt und als “calling for peace” beschrieben. Den Teil in dem die Frau dazu aufruft nicht in schwarzen Stadteilen, sondern in wohlhabenen Vororten zu randalieren ist nur bei Youtube und Co. zu sehen. (Nach “Sherelle Smith” suchen)

     

    Das Problem mit den Populisten ist nicht die Sprache. Die Sprache ist ein Werkzeug zur Kommunikation. Man kann durch sie manipulieren und seine Meinung durch neue Wörter besser transportieren. Schon klar aber anders herum wird kein Schuh draus. Man ändert die Meinung der Menschen nicht indem man versucht Menschen eine andere Sprache aufzuzwingen. Das macht nur wütend, wenn es bemerkt wird.

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @33523 (Profil gelöscht):

      Die Richtung ist falsch. Nicht Meinung produziert neue Sprache, sondern andersherum.

      Kern ist nicht die Meinung, sondern das Denken.

      Niemand wird gezwungen, Wörter wie Arbeitsmarkt, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Flüchtlingswelle, Flüchtlingsproblem etc zu benutzen, dennoch machen es die Menschen, weil sie nicht nachdenken und ihr Denken verändert sich dadurch.

      Wir werden auch nicht zum gender-korrekten Schreiben gezwungen, Sie können schreiben, wie sie wollen. Sie sollten nur mit einer kritischen Reaktion umgehen können.

      Was die BBC mit der ganzen Sache zu tun hat, weiß ich nicht. Das Gejammer, nur weil mal ein paar Journalisten dieselbe Hautfarbe haben sollen, wie die Menschen über die sie schreiben, damit diese sich auch repräsentiert fühlen können.

      "Antidiskriminierungspolitik gegen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ausspielen zu wollen" - diese Formulierung passt zu ihrem Denken gut.

      • 3G
        33523 (Profil gelöscht)
        @85198 (Profil gelöscht):

        "Nicht Meinung produziert neue Sprache, sondern andersherum."

         

        Diese Denke ist mir wohl bekannt. Aber Sie widerlegt sich schon dadurch selber das es unter genannten Umständen keinen Grund für die Entstehung neuer Meinungen geben würde. Ihre These: Meinung ensteht durch Sprache. Woher kommt dann die neue Sprache, wenn sie unabhängig von der Meinung ist? Von Gott?

         

        Ist das Grundlegende Problem von Blanket Slate Theorien! Woher kommt denn Rassismus? Irgendwann muss er ja in die Gesellschaft eingeführt worden sein. Aber von wem? Es gab ja irgendwann auch mal keine Gesellschaft.

         

        "Sie sollten nur mit einer kritischen Reaktion umgehen können."

         

        Wenn ich damit ein Problem hätte dann wäre ich sicher längst nicht mehr hier. Oder meinen Sie mit "Umgehen" etwa Ihre Meinung zu übernehmen? ;)

         

        "Was die BBC mit der ganzen Sache zu tun hat, weiß ich nicht."

         

        Das ist unter den Medien die von Trump angegriffen werden der seriöseste Sender. Die Huffington Post oder Buzzfeed zu kritisieren wäre so als würde ich einem 95 Jährigen den Krückstock wegtreten.

         

        "Das Gejammer, nur weil mal ein paar Journalisten dieselbe Hautfarbe haben sollen, wie die Menschen über die sie schreiben, damit diese sich auch repräsentiert fühlen können."

         

        Das man einer Person die sich selbst vermutlich als Links versteht erklären muss warum Diskriminierung auf Basis der Hautfarbe etwas schlechtes ist schlägt dem Fass echt den Boden aus!

         

        "Antidiskriminierungspolitik gegen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ausspielen zu wollen"

         

        Ausspielen muss ich hier garnichts. Sexistische Antisexisten und rassistische Antirassisten haben doch nichts mehr mit Antidiskriminierungspolitik zu tun. Diese Aktivisten sind selber zu dem Problem geworden das sie einst lösen wollten!

         

        Da brauche ich auch nichts auszuspielen. Zeigen Sie 100 Menschen was heute als Anti-Rassismus durchgeht. Danach werden Ihnen 95 davon sagen das sei "rassistischer Kackscheiß".

  • Der "normative Kern" linken Denkens waren immer schon soziale Gerechtigkeit, poltische und gesellschaftlich-ökonomische Volksherrschaft, gerade sie machen den Unterschied zum abstrakten Freiheitsbegriff der liberalen Aufklärung aus. Begriffe wie "soziale Frage", "politische Eliten" u.ä. drücken sich schon begrifflich um das Kernproblem linker Politik: wie kann die Hegemonie der herrschenden Klasse gebrochen werden - und darum geht es bei linken Intellektuellen im Unterschied zu ihren Kollegen des löblichen (links-)bürgerlichen Liberalismus.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Sprachpolitik betreibt auch der Verfasser schon mit dem Untertitel.

    "Die Linksintellektuellen entdecken die soziale Frage wieder."

    Was für eine Unterstellung. Als hätten alle linken Intellektuellen samt und sonders die soziale Frage vergessen gehabt. Im Rundumschlag wird in (fast) alle Richtungen gezeigt, auf alle, die sich als "links" und "intellektuell" bezeichnen lassen (aus Sicht der CSU ist die CDU schon links).

     

    Das ist diskreditierend für alle wirklichen linken Intellektuellen, die die soziale Frage nie vergessen haben. Eine „angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen“ ist in einem kapitalistischen Unternehmen, einer kapitalistischen Gesellschaft nicht möglich. Es bleibt immer die Angst, den Arbeitsplatz und damit die so genannte "Existenz" zu verlieren. Kein Kapitalist wird jede*n einzelne*n Beschäftigte*n aktiv an den Entscheidungen und dem Kapital beteiligen, dann wäre er kein Kapitalist, sondern Syndikalist geworden.

     

    Auch Adorno ist nicht unfehlbar, nebenbei gesagt. Die "freie Gesellschaft" ist ein Kategorienfehler, nur Lebewesen mit eigenem Willen können frei sein oder unfrei (darauf weist schon Nietzsche hin). Besser, finde ich, wäre "Gesellschaft der Freien".

     

    Wer ist eigentlich mit "Linksintellektuelle" gemeint? Die drei genannten Professoren, die Quer-Front-Positionen in der rechts-mittigen Zeitung FAZ salonfähig machen?

     

    "Antidiskriminierungspolitik gegen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ausspielen zu wollen" ist gar nicht "links". Das ist eine typische Politik der "Mitte".

    Wer die soziale Frage vergessen kann, um sie dann wiederzuentdecken, der war nie "links", sondern nur opportunistisch.

     

    Vielleicht spricht der Text auch über die SPD und ihre angeblich wiedergefundene Sozialität und vielleicht auch über Rußland-Freunde wie Platzeck oder einige Quer-Frontler, die in der Linkspartei leider geduldet werden (manchmal mit Torte im Gesicht), aber bedauerlicherweise kann ich da in Ermangelung konkreter Hinweise im Text nur raten.

    • @85198 (Profil gelöscht):

      Sie haben vollkommen recht. Der Untertitel ist irreführend. Er ist auch nicht von mir, sondern wurde von der TAZ-Redaktion eingefügt. Der Text sagt auch nicht, dass die Linksintellektuellen diese Frage wiederentdecken, sondern dass sie das Wiederaufgreifen der sozialen Frage den linken Parteien empfehlen - um den Rechtspopulismus zurückzudrängen. (Der Text ist an dieser Stelle auch im Konjunktiv formuliert.) Vielen Dank für den Hinweis.

  • Die FAZ ist sicherlich kein Sprachrohr linker Politik, eher das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein.

     

    Ihre Meinung im letzten Satz teile ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin inwiefern das tatsächlich gemacht wird.

     

    Fakt ist aber: Es gibt reale Unzufriedenheit in der Bevölkerung, der resultierende politische Protest äußert sich derzeit vorrangig am rechten Rand und es gibt reale Gründe dieser Unzufriedenheit. Was wir sehen ist, dass Regierung und große Teile des Parlaments keinen Respekt mehr vor dem Grundgesetz zeigen, enorme ökonomische Polarisierung stattfindet und dass einige politische Akteure, statt Sicherheit und Vertrauen zu schaffen, den Mangel daran instrumentalisieren um weiter im eigenen Sinne (und dem der herrschenden Klasse) Politik zu machen.

     

    Ja, es gibt einige Akteure, die die soziale Frage thematisieren, aber wie glaubhaft? Der SPD und den Grünen kann ich das derzeit nicht bescheinigen. Bernie Sanders schon, aber die Vorwahlen waren nachweislich manipuliert und er hatte die großen US-Medien gegen sich. Viele glauben er hätte locker gegen Trump gewonnen - weil er es schaffte die Wut auf die herrschende Ordnung (das Establishment) mit der sozialen Frage zu verbinden.

    • @SomeoneOutThere:

      Ich vermute, dass viele Bürger der USA tatsächlich ein etwas anderes Gerechtigkeitsempfinden haben ("Wer es bis nach oben schafft, der es sich auch verdient.").

       

      Hinzu kommt, dass einerseits die gerechtfertigte Angst vor einem autoritären Kommunismus besteht, und andererseits dieser als einzige Möglichkeit sozialer Gerechtigkeit propagiert wird. Dh. Menschen glauben, mehr soziale Gerechtigkeit ginge unweigerlich mit Unfreiheit/Unterdrückung einher.

       

      Ich meine, dieselbe Annahme ist auch hierzulande verbreitet (wenn auch ein µ weniger stark ausgeprägt). Dh. "links" muss seinen autoritären Modergeruch loswerden, indem aufgezeigt wird, wie Freiheit und soziale Gerechtigkeit miteinander vereinbar sein können.

      • 8G
        85198 (Profil gelöscht)
        @Warner Schwester Dot:

        "Hinzu kommt, dass einerseits die gerechtfertigte Angst vor einem autoritären Kommunismus besteht, und andererseits dieser als einzige Möglichkeit sozialer Gerechtigkeit propagiert wird."

         

        Von Bernie Sanders oder den drei Kommunisten, die es in Amerika gibt?

  • Und dieser Artikel ignoriert, dass die Grundlage einer jeden Freien Gesellschaft eine gute Antwort auf die Soziale Frage ist.

    • @Volker Birk:

      Lieber Herr Birk,

       

      nein, denn ich sage klar, dass man das eine nicht gegen das andere ausspielen sollte. Soziale Gerechtigkeit ist Mittel zum Zweck einer "freien Gesellschaft", aber sie erschöpft sich darin nicht. Eine gute Antwort auf die soziale Frage ist unabdingbar, aber damit haben Sie nicht alle Probleme gelöst...vor allem nicht die von Minderheiten aller Art.