Essay Literatur und die Gesinnungsprüfer: Das halbstarke Jahrtausend
Warum gute Literatur immer politisch ist: Über die Vorwürfe gegen den Autor Simon Strauß und den Poeten Eugen Gomringer.
Es ist das Jahr 2018. Die nuller Jahre sind jetzt volljährig. Aber längst nicht erwachsen. Eine Gesellschaft, die im jungen Jahrtausend erst mit dem Internet und dann mit Smartphones gespielt hat, blickt nun, da auch dort für Text bezahlt werden muss, kurz vom Bildschirm auf und ist – je nach Lager – amüsiert, erstaunt oder entrüstet über die Welt, die sie erblickt. In jedem Fall fest entschlossen, hier und jetzt und wie auch immer persönlich die Stimme zu erheben.
Zu spüren bekommen hat dies unlängst der Autor und Journalist Simon Strauß. Sein Buch „Sieben Nächte“ ist im Blumenbar Verlag erschienen, dessen Programmleiter ich bin. Die halbstarke Art und Weise, wie Strauß gerade in den Anfängen der Debatte – ausgelöst durch einen Artikel in dieser Zeitung – vorverurteilt wurde, hat bei mir Kopfschütteln ausgelöst, und ich teile Ijoma Mangolds Sicht, der dies in der Zeit als „Rufmord“ bezeichnet hat.
Das Vergehen des Autors lag angeblich darin, über Romantik heute nachzudenken. Ein Reflex: Romantik – Weimarer Republik – Holocaust, lautet der unzulässige Dreisatz. Aber genau dieser Reflex macht es notwendig, sich damit eingehend und abseits der Tagespolemik zu befassen. Denn wie Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darlegt, „fällt gerade vielen zur Gesellschaft, in der wir leben, so wenig ein, dass sie dankbar für jede Möglichkeit sind, alte Schlachten zumindest rhetorisch nachzustellen“.
Gegen diese Bequemlichkeit, die noch alles opfern würde, nur um unbehelligt so weiterzumachen wie immer, geht es in „Sieben Nächte“. Gegen ebendiese Art der Bequemlichkeit des Denkens und der Gewohnheit richtet sich jede gute Literatur.
Ähnlich heftige Reaktionen hat auch Eugen Gomringers Gedicht an der Hauswand der Berliner Alice Salomon Hochschule hervorgerufen. Das auf Spanisch verfasste Gedicht ist nicht kompliziert: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“.
Das Gedicht soll weg
Dem Gedicht wird ein latenter Sexismus vorgeworfen, es stelle Frauen vor allem als etwas Dekoratives dar, in einer Reihe mit Alleen und Blumen. Ob diese Kritik, die zuerst vom Asta der Hochschule vorgebracht wurde, berechtigt ist, darüber wurde ausführlich diskutiert, man kann es im Netz nachlesen. In diesen Tagen wurde nun per Abstimmung des Akademischen Senats der Hochschule beschlossen, dass das Gedicht von der Hauswand entfernt werden soll.
geb. 1982, Studium der Germanistik und Romanistik in Tübingen, Pisa und Perugia. Seit 2017 Programmleiter Blumenbar und neue Literatur im Aufbau Verlag.
Was haben die Vorwürfe gegen Eugen Gomringers Gedicht und die gegen Simon Strauß’ „Sieben Nächte“ gemeinsam? Die beiden Texte sind in Stil und Form unvergleichbar, doch die Vorwürfe richten sich auch nicht gegen das, was da steht, nicht gegen das Gesagte also, sondern gegen das Ungesagte. Sie zielen damit direkt auf die interpretatorische Offenheit des Geschriebenen. Der Text steht unter Verdacht, weil er eine bestimmte Lesart nicht explizit ausschließt, so die Argumentation der Kritiker. Doch was für eine Literatur wünscht man sich stattdessen, eine unzweideutige?
Diese gibt es nicht, und wenn, dann ist sie ein Merkmal autoritärer Staaten oder Diktaturen. Gerade unter politischem Druck hat die Literatur oft ihre Freiheit nur bewahrt, indem sie abstrakter wurde, um so die Zensur zu überlisten und ihre Freiheit zu behaupten. Von der Kunst muss man nicht verlangen, dass sie in Krisenzeiten politisch wird, sondern vom Leser.
Egal, welcher Kunstdefinition man folgt, geht es doch immer um Ambivalenzen, darum, dass der Sinn erst in der Begegnung mit dem Werk entsteht, durch Auseinandersetzung, durch Übertragen auf die eigene Situation, durch ein Zusammenwirken von Sehen, Fühlen und Denken. Die Voraussetzung jeder Kunst (und im Übrigen jeden demokratischen Staates) ist doch, dass man vom Menschen im Allgemeinen und dem Citoyen im Besonderen als vernunftbegabtem Wesen ausgeht. Das ist der Unterschied zu den allzu eifrigen Gesinnungsprüfern unserer Tage.
„Ich will hoffen, dass stets genug Weichspüler im Haus vorhanden ist, um Texte zu finden, die niemanden echauffieren“, schreibt Gomringers Tochter Nora, selbst Schriftstellerin, und schärft so den Blick dafür, dass hier trotz gutgemeinter Absichten die Kunstfreiheit auf dem Spiel steht.
Blick in den Spiegel
Der Vorgang beweist aber, dass Literatur keineswegs dezidiert politisch sein muss, um zum Politikum zu werden. Die weit verbreitete Ansicht, ästhetizistische Kunst sei weltfremd, greift zu kurz. Oft, wie im Fall von Strauß und Gomringer, führt gerade die Offenheit des Textes dazu, dass sich in der kollektiven Exegese die Gesellschaft selbst den Spiegel vorhält.
Der Rückgriff auf den Reflex zur Dämonisierung des Unverstandenen ist falsch, und wenn man die Rechten – zu Recht – für diesen Reflex kritisiert, dann darf man ihn im bürgerlichen Lager nicht wiederholen. Die Technisierung des Alltags fordert Reflexhaftigkeit und belohnt sie, indem sie zuvörderst auf Schnelligkeit setzt und das Bequeme noch bequemer macht. Auch das ist etwas, was nun, zur Volljährigkeit der Digitalen Zeit, auf den Prüfstand kommt.
Literatur steht per se gegen eine solche Gewohnheit. Ein Buch zu lesen ist heute schon ein Akt des Widerstands. Gegen den Reflex, nach dem Telefon zu greifen, gegen die Verpflichtung, jederzeit erreichbar zu sein, irgendwelche Meldungen hinunterzuschlingen, noch mehr Überstunden zu leisten oder den Stromanbieter zu wechseln. Gegen die immer drohende Zerstreuung. Die Rückkehr zu diesem Kern, die emphatische Betonung dieser Funktion des Buchs und der Versuch, aus dieser Abkehr von Ökonomie, Zynismus, Halbherzigkeit Wege zu sich selbst zu finden und zu beschreiben, darin liegt die große Kraft des Lesens.
Im besten Fall aber erschließt ein Buch auch eine neue Sprache. Die allerorts gefeierte, sogenannte Migrationsliteratur um Autoren wie Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoğlu und Saša Stanišić hat in den Neunzigern und frühen nuller Jahren eindrücklich gezeigt, wie sehr die deutsche Sprache durch Rekurse auf ihr fremde Versatzstücke in ihren Ausdrucksmöglichkeiten erweitert wird. Das gilt auch für die zeitgleiche und ebenso erfolgreiche Strömung der Popliteratur. Diese war stark von einem angelsächsischen Lakonie-Diktum geprägt, das einiges an Strahlkraft verloren hat. Das mag damit zusammenhängen, dass die dem innewohnende Lässigkeit eines „Anything goes“ – zu Deutsch: „Alles kann, nichts muss“ – nicht mehr angemessen erscheint für ein weit verbreitetes Gefühl von Endzeitstimmung, das zwar wirtschaftlich unbegründet erscheinen mag, aber durch die wiederholte Beschwörung von neuen Krisen in der Politik, die Ahnung vom Abgrund durch die Bankenkrise 2008 und den daran anschließenden Erfolg populistischer Antidemokraten doch nachvollziehbar wird.
Verstaubte Kitschbilder
In dem Maße, in dem sich die Gegenwart verändert, muss auch die Kultur und die Sprache neue Felder und Formen erschließen. Die identitäre Bewegung, aber auch die Popkultur – man denke an die Debatte um die Band Frei.Wild – haben sehr schnell hierauf reagiert, indem sie verstaubte Kitschbilder wieder hervorgekramt und mit etwas Helene-Fischer-Zauber wiederbelebt haben. Inhaltlich kann man das abtun, das Symptom, das hier deutlich wird, sollte man ernst nehmen. Ein System verändert sich immer zuerst von seinen Rändern her, heißt es im Strukturalismus. Diese Veränderung sollte nicht diesen Rändern überlassen werden.
Es bedarf der Mühe von progressiver Seite, der deutschen Sprache diese neuen Felder, diese neuen Formen zu erschließen. Simon Strauß hat hierzu einen ernsthaften und auch gewagten Versuch unternommen. Er hat versucht, die Sprache der Romantik heute wieder anschlussfähig zu machen. Ob es ihm gelungen ist, ist eine legitime Streitfrage.
Dass aber der Bezug auf die durch den Nationalsozialismus „kontaminierte Geistesgeschichte“, wie es Tilman Krause in der Welt nennt, tabuisiert wird, erscheint mir nicht zeitgemäß. 1981 musste sich Rainald Goetz im Spiegel vor seinen Freunden dafür verteidigen, dass er zuvor Botho Strauß’ „Paare, Passanten“ himmlisch gelobt hatte, da sie dem Text Reaktionismus vorwarfen. 2012 wurde Christian Kracht von Georg Diez im Spiegel als Nazi etikettiert, weil Krachts Hauptfigur in seinem Roman „Imperium“ von Ideen der Romantik beseelt war. Das beweist vor allem, wie wenig sich im Nachdenken über die Kulturgeschichte vor 1945 in Deutschland getan hat, und gerade deshalb scheint mir das ein Feld zu sein, das sehr fruchtbar sein kann, wo die Luftschiffer und Taugenichtse von heute sich austoben, neue Routen erkunden, neue Wege entdecken können.
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Aus literarischer Sicht ist das auch deshalb spannend, weil es auch sprachlich – mal abgesehen von allem, was uns heute kitschverdächtig erscheint – sehr ergiebig sein kann. Denn auch wenn die Klarheit und Einfachheit aneinandergereihter Hauptsätze, ihre Vorteile hat, so ist sie durch den inflationären Gebrauch in Werbung, Film und Literatur inzwischen doch entwertet worden. Die deutsche Sprache beraubt sich ihrer besten Mittel, wenn sie ganz auf andere grammatische Varianten verzichtet.
Das Schöne an dieser Möglichkeit ist, dass sie nur einer von vielen ist, um auf die Gegenwart, die Vergangenheit oder die Zukunft zu reagieren. Wenn ich also sage: Probiert mal die Romantik, dann meine ich damit auch: Probiert mal den hellenistischen Roman. Probiert mal: Elke Erb. Probiert mal: Jörg Fauser. Probiert mal: einen eigenen, einen besonderen Weg.
Nur ernst nehmen sollte man dieses Probieren. Beliebigkeit, „Anything goes“ kann es nicht geben. Die Wirkung, der Sinn von Literatur darf und soll mehrdeutig sein, die Wahl ihrer Mittel und Formen aber verlangt Verbindlichkeit. Dies ist das entscheidende Kriterium. Nicht, ob sie dezidiert politisch gemeint ist oder ob sie sich eher in diesem oder jenem Lager verortet.
Auch Humor kann man übrigens sehr ernsthaft betreiben, worin zum Beispiel Bov Bjerg ein absoluter Meister ist. Es geht darum, dass es dem Autor mit dem Erzählen ernst ist. Dass er einen inneren Auftrag hat, der ihn zwingt, dieser unzeitgemäßen Tätigkeit nachzugehen: dem Schreiben.
Wer diesen Auftrag und diese Ernsthaftigkeit in sich einmal gefunden hat, wird es leichter haben, den nötigen Gleichmut aufzubringen gegenüber diesem pöbelnd heranwachsenden Jahrtausend.
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