Essay Linke und Flüchtlingspolitik: Jeder einzelne Mensch zählt
Mit der Abschottung Europas sind auch viele Linke erleichtert, weil weniger Flüchtlinge kommen. Aber für Flüchtlinge bedeutet sie neues Leid.
Unter dem Titel „Geständnisse eines Linken“ schrieb am Montag der überaus geschätzte Kollege Ulrich Schulte über seine Zweifel, ob es nicht doch eine ziemlich gute Nachricht sei, dass derzeit nur noch sehr wenige Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Zweifel, die, wie er schrieb, innerhalb der liberalen Linken eigentlich tabu sind. Wolle er wirklich, fragt der Autor sich selbst, dass „noch viele Millionen Flüchtlinge kommen?“ Dass „all die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten“ nach Deutschland kämen? Und sagt: „Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein.“
Wer keine Zweifel hat, dessen Überzeugungen sind auch nicht viel wert. Und wer in der Hilfe für geflüchtete Menschen aktiv ist, dürfte mehr als einmal Zweifel bekommen haben: An der Funktionsfähigkeit der deutschen Bürokratie, an der eigenen Rolle, Staatsversagen durch ehrenamtliche Hilfe auszugleichen, an den eigenen Fähigkeiten, das Engagement über einen längeren Zeitraum durchzuhalten, und letztendlich, ja, auch an der Frage, ob „wir“ das wirklich schaffen.
Und es stimmt, auch für viele der Ehrenamtlichen bedeutet es ein Durchatmen, nicht mehr jede Nacht unterwegs zu sein, um obdachlos gewordene Flüchtlinge irgendwie unterzubringen, bis in die Morgenstunden Feldbetten aufzubauen oder täglich Tausende von Essen bereitzustellen.
Aber das ist zu kurz gedacht. Um von unseren Befindlichkeiten wegzukommen: Nicht nur für diejenigen, die jetzt in Idomeni im Schlamm stecken, bedeuten die geschlossenen Grenzen eine Katastrophe, sondern auch für viele derjenigen, die schon hier sind.
Zerrissene Familien
Da ist zum Beispiel Ammar A., 26, Computerspezialist aus Damaskus. Vor gut sechs Wochen ist er in Berlin angekommen, hat es als einer der Letzten mit seiner hochschwangeren Frau über die Balkanroute geschafft. Sein Bruder Ramy, 24, ist schon seit einem halben Jahr hier. Beide leben in einer vom Roten Kreuz betriebenen Notunterkunft in Berlin-Karlshorst. In Berlin ist Ammar Vater geworden. Ramy ist inzwischen als Flüchtling anerkannt, Ammar und seine Familie stehen noch am Anfang, aber beide könnten eigentlich zur Ruhe kommen, Schwung holen, Deutsch lernen, mit Elan ihr neues Leben in Deutschland beginnen.
Könnten. Wenn da nicht Anas wäre, der ältere Bruder, 27 Jahre alt, der mit seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter im griechischen Idomeni festsitzt. Ramy und Ammar wissen nicht, ob Bruder und Familie die mazedonische Polizeiaktion vor einigen Tagen unverletzt überstanden haben. Mal haben sie Kontakt, mal nicht.
Und da ist ihre Mutter mit den anderen der insgesamt sechs Kinder. Sie ist gerade erst aus Syrien heraus- und mit Ramys und Ammars jüngeren Brüdern, 15 und 17, und ihrer 16-jährigen Schwester in der Türkei angekommen. Nur weil sich die Mutter beim Grenzübertritt ein Bein gebrochen hat, wurde sie nicht sofort über die Grenze zurückgeschickt, wie es inzwischen, von Europa unkommentiert, üblich geworden ist. Jetzt sitzt dieser Teil der Familie in einem Lager nahe der syrischen Grenze fest. Auch zu ihnen versuchen Ammar und Ramy irgendwie Kontakt zu halten.
Wie soll man sich auf einen Neuanfang konzentrieren, wenn die engsten Verwandten in solcher Not sind? „Ich glaube, dass sie nie richtig hier ankommen, solange die Familie nicht zusammen ist“, sagt Christian Stegmann. Der Physikprofessor ist seit August vergangenen Jahres in der Kleiderkammer der Karlshorster Notunterkunft als Helfer aktiv und kennt die Sorgen vieler Bewohner_innen.
Ist Deutschland so durch-AfD-isiert?
Wo manche Deutsche durchatmen, bleibt den Geflüchteten die Luft weg. Man braucht keine Empathie, um zu begreifen, dass uns das erneute Abschotten nicht Erleichterung verschafft, sondern mehr Probleme in der nahen Zukunft.
Trotzdem bleibt Empathie ein Kernelement. Wer eine menschlichere Welt will, muss menschlich handeln.
Was ist passiert seit Anfang September vergangenen Jahres, als die Bundeskanzlerin angesichts der schrecklichen Bilder vom Budapester Bahnhof entschied, die Menschen nach Deutschland weiterreisen zu lassen? Warum sind die Menschen aus Idomeni nicht schon längst hier? Ist Deutschland inzwischen so durch-AfD-isiert, dass wir alle, wie es Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ausdrückte, „harte Bilder aushalten“, uns nicht mehr berühren lassen?
Ich fürchte, ja. Auch in linken Debatten taucht die Frage auf, ob wir denn wirklich glaubten, Deutschland könne alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen. Mich erinnert das immer an eine Diskussion mit meinem Vater über den Wowereit-Ausspruch, er sei schwul, und das sei auch gut so. Nein, empörte sich mein Vater, das sei überhaupt nicht gut so! Man möge sich doch einmal vorstellen, alle Welt sei schwul, dann sterbe die Menschheit aus! Ja. Aber es sind eben nicht alle schwul. Und nicht alle Flüchtlinge wollen nach Deutschland.
Die Furcht vor den Rechten
Aber die Parolen der AfD sind in den Köpfen und kommen auch so schnell nicht wieder heraus. Warum ist ein Innenminister noch im Amt, der unter „Vorlegen eines Maßnahmenpaktes zur Integration“ nicht Sonderinvestitionen in Deutschkurse, schnellere Anerkennung von beruflichen Qualifikationen und vom Bund finanzierten Wohnungsbau versteht, sondern Sanktionen gegen „Integrationsunwillige“? Warum ist die Helferbewegung politisch so schwach?
Viele haben Angst, die Rechte könnte stärker werden, wenn immer weitere Flüchtlinge kämen. Nach vielen Jahren der politischen Langeweile in der scheinbar gefestigten parlamentarischen Demokratie Deutschland macht sich Angst breit, das Eis könne womöglich doch sehr dünn sein, auf dem wir uns bewegen. Und prompt brechen wir gleich vorsorglich ein.
Ja, Deutschland hat Probleme. Wie fast überall auf der Welt hat hier in den 1990ern der neoliberale Diskurs den Rückzug des Staates als Allheilmittel etabliert, etwa im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Die Mieten in den Ballungszentren steigen seit Ewigkeiten, und jetzt fällt das auf? Irrsinn. Hat nur mit Flüchtlingen nichts zu tun.
Aber in solchen Dingen offenbart sich ein Problem: Wenn wir immer davon sprechen, Deutschland sei ein so reiches Land, dass „wir“ es uns ohne Weiteres leisten könnten, große Zahlen Geflüchteter aufzunehmen, dann stimmt das statistisch und faktisch, spiegelt aber nicht das Lebensgefühl vieler wider, die einen sozialen Abstieg fürchten. Genau deshalb funktioniert ja die Selbststilisierung der – nun wahrlich nicht antikapitalistischen – AfDler und Pegidioten als „Systemkritiker“.
Deutschland, das geht
Linke Politik muss dagegen angehen, sozial Schwache gegen noch Schwächere aufzuhetzen. Sie muss aber auch sagen, dass Deutschland, dass Europa als Insel des Wohlstands auf Kosten des Restes der Welt nicht zu verteidigen sein wird. Man kann es „Bekämpfung der Fluchtursachen“ nennen, was eigentlich Binsenweisheiten linker entwicklungspolitischer Ansätze sind: Überwindung der ausbeuterischen Verhältnisse, Stopp des Kapitaltransfers von Süd nach Nord, Stopfen der Steuerschlupflöcher für nationale Eliten und internationale Konzerne, Stopp deutscher Waffenexporte. Und so fort.
Aber um für internationale Umverteilung werben zu können, braucht es Umverteilung im eigenen Land – im Grunde eine ganz klassische sozialdemokratische Lehre. Diese Vorstellung aber scheint es allenfalls noch in Teilen der Linkspartei zu geben.
Ja, es gibt viele unerledigte Aufgaben. Die Flüchtlingssituation ist für keine davon die Ursache. Sie führt uns aber direkt vor Augen, dass linke Politik keine Wohlfühlspielwiese irgendwo zwischen Bionade und evangelischer Grundschule ist.
Es geht um Menschen, ihre Chancen, ihre Rechte, ihr Überleben. Und daran, dass es sich dafür einzusetzen lohnt, kann es doch eigentlich keinen Zweifel geben. Für den Augenblick heißt das, dass die Grenzen nicht geschlossen bleiben dürfen. Wenn der Rest Europas sich verweigert, nimmt Deutschland die Menschen eben allein auf. Das geht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag