piwik no script img

„Es wird eine Mischsprache geben“

taz-Serie Bildung und Migration (Teil 1): Dreißig Prozent der Migrantenkinder haben keinen Schulabschluss. Das liegt aber nicht nur an mangelnder Sprachkenntnis, sondern auch am Versagen der Bildungspolitik, meinen drei Berliner Jugendliche

Interview JULIA NAUMANN und UWE RADA

Über 30 Prozent der Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft haben gar keinen Schulabschluss. Woran liegt das?

Deniz Topal: Ich glaube, es ist ein allgemeiner Mangel vorhanden, dass die Menschen sich immer weniger bilden. Das hat nichts mit den Migrantenkindern zu tun. Ich kenne sehr viele Deutsche, die wesentlich schlechter als ich Deutsch sprechen. Ich empfinde das nicht als Ausländerproblem.

Aber es ist eine Tatsache, dass der Anteil von Nichtdeutschen an den so genannten Bildungsverlierern höher ist.

Özgür Orucoglu: Auf meiner Grundschule waren viele Ausländer. Ich hatte aber das Glück, dass ich der einzige Ausländer in der Klasse war. Dann war ich an einer Hauptschule, an der auch über die Hälfte Ausländer waren. Da habe ich aufgehört, Deutsch zu sprechen, außer mit meinem Lehrer. Meine Ausbildung habe ich in einer türkischen Firma gemacht. Ich brauchte überhaupt kein Deutsch mehr sprechen.

Wie würden Sie das Sprachverständnis unter türkischen Jugendlichen beschreiben?

Deniz Topal: Die meisten türkischen Jugendlichen, die in Deutschland leben, sprechen ein Mischmasch aus Deutsch und Türkisch.

Murat Karagöz: Von wem sollen wir denn Deutsch lernen, wenn viele deutsche Jugendliche auch so schlecht deutsch sprechen? Auch die Boulevardzeitungen und die Fernsehsender sind nicht besonders anregend. Die Lehrer leiern ihren Unterricht auch nur so runter.

Haben die Lehrer, hat die Schule versagt?

Deniz Topal: Die Lehrer haben Effi Briest in der Schule durchgenommen, und da gab es einige türkische Mitschüler, die wirklich gar nichts verstanden haben. Die haben Interpretationsvorschläge aus der Bibliothek auswendig gelernt und sie dann abgeschrieben. So haben sie sich durchs Abitur gemogelt. Ich kenne sogar Türken, die das Fachabitur gemacht haben und überhaupt kein Deutsch konnten.

Murat Karagöz: Ein Freund von mir hatte eine Lehrerin, bei der mussten sie für jedes türkische Wort, das sie gesagt haben, 10 Pfennig in die Klassenkasse zahlen. In der Oberstufe waren es dann schon 10 Mark. Deswegen haben die Schüler überhaupt nichts mehr gesagt. Es gab eine Gruppe türkischer Jungs, die haben nicht mehr geredet, wenn sie kein Geld dabei hatten. Wenn sie welches hatten, haben sie freiwillig 10 Mark in die Kasse geworfen und auf Türkisch geredet.

Wie sollte der Unterricht idealerweise aussehen?

Özgür Orucoglu: Schülern sollte ganz früh beigebracht werden, wie man lernt. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung von Rechtschreibung. Mir hat man nicht beigebracht, wie ich mir ein Lernprogramm erarbeite.

Deniz Topal: Wenn die Klassen nicht so voll wären, könnten sich die Lehrer intensiver um die Kinder kümmern. Ausländerkinder sollten auf keinen Fall zu bunten Hunden werden. Ich hatte in der Grundschule immer das Gefühl, als wäre ich eine Stufe unter den deutschen Kindern. Die waren ein eingeschworener Verein – und ich habe versucht, mich intellektuell zu integrieren, indem ich zum Beispiel bei Lesewettbewerben mitgemacht habe.

Wie haben Sie Deutsch gelernt?

Murat Karagöz: Ich hatte viele deutsche Freunde im Kindergarten und im Hort. Ich habe Deutsch von klein an gelernt. Ich war zwar auch an einer Hauptschule, an der mehr Türken als Deutsche waren, aber bei den Deutschen habe ich mich wohler gefühlt.

Deniz Topal: Zu Hause wurde bei uns kaum Deutsch gesprochen. Aber als ich vier Jahre alt war, ging meine Mutter bei einer deutschen Frau putzen. Da habe ich ziemlich viel Deutsch gelernt. Ich war gar nicht im Kindergarten, wie die anderen Geschwister auch. Ich hatte in der Grundschule dann keine Sprachprobleme. Im Durchschnitt war ich besser als meine deutschen Mitschüler. Ich muss aber auch dazusagen, dass es in unserer Großfamilie viele Jugendliche gab, die sehr gut Deutsch sprachen. Dadurch habe ich auch eine ganze Menge gelernt.

Murat Karagöz: Um mich herum waren immer viele Deutsche, und meine Eltern können mittlerweile auch ganz gut Deutsch. Die Sprache war nie ein großes Problem.

Sie haben das Stichwort Eltern genannt. Wie sieht es mit deren Verantwortung aus? Wenn ein türkisches Kind ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommt, können die Lehrer ja nicht daran schuld sein. Unterstützen türkische Eltern ihre Kinder zu wenig?

Deniz Topal: Die Eltern wollen auf jeden Fall das Beste für ihre Kinder. Sie können aber nicht viel für sie tun. Meine Mutter konnte kein Deutsch, sie konnte auch nicht lesen und schreiben. Mein Vater war der Einzige, der lesen und schreiben konnte, aber der war den ganzen Tag arbeiten. Meine Mutter konnte mich nur motivieren. Das hat sie aber auch sehr gut gemacht. Fördern konnte sie mich aber nicht. Sie wollte, dass ich Ärztin werde. Sie wusste aber weder, dass man dafür Abitur braucht, noch wie schwer dieses Studium ist. Es ging einfach nur darum, dass das Kind genug verdient und dass die Eltern dadurch Ansehen erlangen.

Murat Karagöz: Die Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder. Sie sagen, mach die Schule, werde Doktor oder Polizist. Mein Vater wollte immer, dass ich Polizist werde.

Özgür Orucoglu: Wir sollen es besser machen als unsere Eltern. Sie versuchen uns schon zu unterstützen, aber sie haben ja gar keine Mittel dazu.

Macht es die dritte Generation denn besser? Die Sprachprobleme sind nicht kleiner, sondern größer geworden, nicht zuletzt deshalb, weil viele türkische Männer Frauen aus der Türkei heiraten, die kein Deutsch können.

Deniz Topal: Mein Bruder hat eine Frau aus der Türkei geheiratet. Die Mädchen dort sind nicht mehr so altmodisch wie vor 30 Jahren.

Spricht sie denn deutsch?

Deniz Topal: Sie hat angefangen Deutsch zu lernen. Dann aber hat sie ein Kind bekommen. Aber dieses Kind wächst mit der deutschen Sprache auf, denn ihr Mann spricht kaum Türkisch und der Rest der Familie spricht auch hauptsächlich Deutsch. In diesem Fall wird das Kind wohl eher keine Probleme mit der deutschen Sprache haben, sondern mit der türkischen.

Wäre das schlimm?

Deniz Topal: Ich habe Angst davor, dass meine Kinder später die türkische Sprache nicht beherrschen. Ich will nicht, dass mein Kind mal sagt: Meine Vorfahren waren Türken, und ich bin Deutscher. Ich möchte auf keinen Fall meine Mentalität aufgeben. Ich fühle mich zwar nicht hundertprozentig türkisch – aber auch nicht deutsch. Ich denke, ich bin europäisch.

Könnten Sie sich trotzdem vorstellen, einen Deutschen oder eine Deutsche zu heiraten?

Deniz Topal: Auf keinen Fall. Hundertprozentig nicht.

Özgur Orucoglu: Ich würde keine Deutsche heiraten, weil ich meine Sprache und das, was wir sind, unsere Mentalität, eigentlich sehr schön finde.

Das klingt, als ob es keine Normalität zwischen Deutschen und Türken geben wird.

Deniz Topal: Die Deutschen wollen sich doch auch nicht annähern. Ich finde nicht, dass es sich nur um ein Problem der Ausländer handelt.

Özgür Orucoglu: Der Glaube spielt bei vielen einfach eine ganz große Rolle. Das macht einen großen Unterschied aus. Das Problem ist außerdem, dass die Türken sich oft nur in der Gruppe unter Türken wohl fühlen. Die wollen sich nicht mit Deutschen anfreunden, weil sie nicht wissen, worüber sie mit Deutschen reden sollten. Das war aber nicht immer so. Bei mir war es sogar mal umgekehrt. Ich hatte in Spandau viele deutsche Freunde, mit denen ich sogar in die Türkei in den Urlaub gefahren bin und sie meinen Großeltern vorgestellt habe. Aber irgendwann wollte ich mehr von meiner eigenen Kultur lernen. Dadurch habe ich von den Deutschen immer weiter entfernt. Obwohl ich auf der Arbeit nur mit Deutschen zu tun habe, ist meine Freizeit türkisch.

Die türkische Community in Berlin ist so groß, dass man eigentlich gar kein Deutsch sprechen muss. Wird sich das überhaupt ändern können?

Deniz Topal: Wer kein Deutsch kann, wird nicht ernst genommen. Natürlich könnte man ohne Deutsch leben, aber wir haben ganz andere Erwartungen vom Leben als unsere Eltern und Großeltern. Die haben ihren Kindern nichts anderes vermittelt. Aber ich denke, das Problem wird sich irgendwann von selbst aufheben. Bis zur siebten Klasse hatte ich auch keine deutschen Freunde.

Özgür Orucoglu: Ich finde, dass wir als dritte Generation die deutsche Sprache sehr gut lernen müssen, um uns mehr zu integrieren. Es geht nicht, dass wir so leben wie vor 30 Jahren. Ich will zwar nicht meine Traditionen aufgeben, ich kann auch nicht so denken wie die Deutschen. Aber wir müssen wenigstens die Sprache beherrschen.

Deniz Topal: Deutsch lernen müsste Pflicht werden für Eltern und für Kinder. Wenn sich jemand einbürgern lässt, müsste er Deutschkurse besuchen.

Murat Karagöz: Ich finde, wir sind eigentlich genauso deutsch wie die anderen. Wir sind hier geboren, wir sind hier aufgewachsen. Der Unterschied ist nur, dass wir Türkisch können und die meisten Deutschen nicht.

Deniz Topal: Doch das wird sich ändern. Ich bin der festen Überzeugung, dass in 10 oder 20 Jahren eine türkisch-deutsche Sprache entsteht. Ich kenne schon einige deutsche Jugendliche, die auch schon türkisch können. Das liegt daran, dass sie mit Türken aufwachsen, die ihnen Türkisch beibringen.

Özgür Orucoglu: Ich kann das nur bestätigen. In Spandau und Kreuzberg gibt es viele deutsche Jugendliche, die ab und zu mal türkische Wörter in ihre Sätze einflechten.

Deniz Topal: Sie benutzen zum Beispiel keine Artikel mehr, weil es das im Türkischen nicht gibt. Die meisten türkischen Jugendlichen haben das Problem, dass sie nicht durchweg eine Sprache sprechen. Sobald wir Probleme mit einer Vokabel haben, wechseln wir die Sprache.

Herr Orucoglu, Herr Karagöz, Sie haben einen erweiterten Hauptschulabschluss und derzeit keine festen Jobs. Bereuen Sie es manchmal, keinen besseren Schulabschluss zu haben?

Özgür Orucoglu: Ich jobbe momentan bei BMW und die bieten Jugendlichen wie mir Möglichkeiten der Weiterbildung an. Wenn BMW mir anbietet, Fachabitur zu machen, dann würde ich die Chance auf jeden Fall nutzen, um irgendwann mal vom Fließband weg zu kommen. Für mich persönlich würde ich das nicht tun, aber es ist nun mal nötig, wenn man eine bessere Arbeit finden will.

Murat Karagöz: Ich hätte gern Abitur. Aber ich habe schon dreimal versucht, meinen Realschulabschluss nachzuholen, aber es geht einfach nicht. Ich bin einfach nicht geschaffen für die Schulbank. Ich kann mich nicht konzentrieren.

Hätten Sie eher Abitur gemacht, wenn Sie etwa in Charlottenburg und nicht in Bezirken mit hohem Ausländeranteil zur Schule gegangen wären?

Özgur Orucoglu: Das glaube ich nicht. Es gibt überall so viele Türken, man braucht kein Deutsch zu sprechen. Ich war einfach zu faul.

Deniz Topal: Es liegt nicht nur an der Nationalität, sondern an den Menschen selbst. Es gibt faule Türken und faule Deutsche. Ich habe mich durchgebissen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen