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Es ist eine Rechnung offen

Sie sah, dass man Männer auch wie Tiere halten kann. Er sah, dass man Frauen auch treten darf: Rosel und Hans Maass

aus Münster JENS RÜBSAM

Am 9. Mai füllt das Rentnerehepaar Maass aus Münster zwei Überweisungsaufträge aus. Unter „Empfänger“ notieren sie beide „Bundeskasse“. Unter „Betrag“ vermerken sie jeder eine fünfstellige Summe. Unter „Verwendungszweck“ schreiben sie unisono „Zwangsarbeiterentschädigung“. Als sie die Formulare abgezeichnet haben, geht es ihnen „irgendwie besser“. Sie hat das Gefühl, „eine Liebeserklärung an meine Großeltern“ unterschrieben zu haben, er sieht sich „an der Sache beteiligt“.

Am Tiergarten 17 ist eine solide Adresse im gediegenen Münsteraner Stadtteil Wolbeck. Adrette Einfamilienhäuser, der Staatsforst um die Ecke. Wer hier lebt, kann nicht klagen. „Wir sind dankbar“, sagen die Maass. Sie haben sich. Finanziell ist keine Not. Der Sohn studiert. Sie schreibt ihm jetzt Briefe. Schreibt, was nie ausgesprochen wurde. Rosel und Hans Maass, 66 und 69 Jahre, Sozialpädagogin und Oberstudienrat im Ruhestand – ob es ihnen gut geht?

Zusammengepfercht, getreten

Wie denn, wenn die Seele schreit?

Rosel Maass zählt acht Jahre, als sie sieht, dass man Männer auch wie Tiere halten kann, zusammengepfercht in einer Baracke. Männer, die leere Augen haben und abgemagerte Leiber. Männer, Italiener mit schwarzen Haaren und schwarzen Schnurrbärten, über die es in jenen Kriegsjahren heißt, sie hätten es nicht anders verdient.

Hans Maass ist vierzehn Jahre alt, als ihm gezeigt wird, dass man Frauen auch wie Dreck behandeln kann, dass man sie treten darf. Frauen, junge Russinnen, über die gesagt wird, das seien die Untermenschen.

Die Seele schreit – heute.

Damals steht das Mädchen Rosel mit ihrem Großvater nach einem Spaziergang in der Tür der Arbeiterbaracke, die schon außerhalb des Städtchens liegt – und hat „kein Gefühl“. Es ist „eben so“, dass die Männer nur lumpige Kleidung tragen und auf Holzpritschen liegen. Es ist „eben normal“, dass diese Gestalten eng übereinandergestapelt zu leben haben. Es ist „eben natürlich“, dass die Italiener nur zum Schuften hier bei ihnen im Reich sind. Es ist „eben so“, dass der Großvater kein Wort darüber verliert und sie auch nicht nachfragt. „So schrecklich das heute klingt“, sagt Rosel Maass, „ich hatte kein Unrechtsgefühl.“ Wer will ihr das vorhalten?

Damals, da schaut Hans, der Bursche, zu, wie der Vorarbeiter der Munitionsfabrik, in der er arbeiten muss, eine junge Russin mit Tritten traktiert. Er schweigt. Alle schweigen. Er hat Granaten zusammenzusetzen, ihnen die Flügel aufzudrehen, nichts weiter. Er hat auszuhalten in dem kleinen Raum, in dem ätzende Dämpfe wabern. Er ist erst 14 und hat schon zehn Stunden am Tag zu schuften. „Die Russen“, sagt Hans Maass heute, „waren für mich Menschen aus einer anderen Welt, sie waren wie ein Schatten.“ Wie sie hierher kamen? Wie es ihnen hier erging? Er hat nie gefragt. Kann man ihm das vorwerfen?

Rosel und Hans Maass sind Kinder, für die der Krieg Heimat ist. Kinder, die in der elterlichen Wohnstube eine Karte an der Wand hängen sehen, an der mit roten Fähnchen das Deutsche Reich abgesteckt ist. Kinder, die die Lehrer vom Führer reden hören – als handle es sich um den lieben Gott. Nachts staunen sie den Himmel an und erwarten mit Spannung die Flugzeuge. Tagsüber sammeln sie Bombensplitter und pulen in abgestürzten Maschinen nach Radioteilen. Sie werden zu Pimpfen ernannt, schwarzes Tuch wie ein Heilsbringer um den Hals, schwarzer Lederriemen um die Lenden. Die Mädchen fühlen sich groß wie Damen, die Buben stark wie Ritterkreuzoffiziere. Vor dem Schlafengehen küssen sie Bilder – Bilder, auf denen Väter mit Stahlhelmen abgebildet sind.

Hans Maass ist ein Junge, den man früher „arisch“ nannte. Blond, blauäugig, hoch gewachsen, so wie die nationalsozialistischen Propagandisten Kinder gern haben. Als die Eltern gefragt werden, ob sie ihn auf eine NS-Erziehungsschule geben wollen, lehnen sie höflich ab. Die Maass aus dem westfälischen Grenzstädtchen Gronau sind keine, die den Nazis zujubeln, aber auch keine, die gegen sie rebellieren. Der Vater, ein Lehrer, schwelgt in der Literatur und im Latein. Er ist ein Schweiger. Noch gegen Ende des Krieges wird er, bereits 47-Jährig, eingezogen. In einem seiner Briefe schreibt er, er trage sich mit Selbstmordgedanken. Der Junge bringt derweil die Familie durch.

Rosel Maass erlebt die Kriegsjahre im sauerländischen Breckerfeld, im behüteten Hause der Großeltern. Der Vater wird früh in die Wehrmacht berufen. Die Mutter nennt sich stolz Soldatenfrau, verlässt stets das Zimmer, wenn der Großvater am Radiogerät einen englischen Sender einstellt.

Der Großvater ist Besitzer einer Gesenkschmiede. Die, die man Ostarbeiter oder Untermenschen und heute Zwangsarbeiter nennt, rackern für ihn in glühender Hitze, Hufstollen und Schraubenschlüssel sind zu fertigen. Auch der Großvater väterlicherseits ist Unternehmer. Schnallen, Knöpfe, Schuhbeläge werden in seiner Fabrik im Städtchen Schwelm produziert. Dass das die Zwangsarbeiter erledigen, scheint eine Selbstverständlichkeit.

Ob die Großväter eine Wahl hatten? Oder ob ihnen die Ostarbeiter zugewiesen wurden? Ob die Großväter sie anständig bezahlten? Oder ob sie ihnen genug zu essen gaben? Rosel Maass weiß es nicht. Was sie weiß: Die Großväter waren anständige Männer.

„Ich würde meine Großväter heute gerne viel fragen“, sagt sie. „Ich nehme meinem Vater übel, dass er mir nicht die Welt erklärt hat“, sagt er.

Es ist ein Großeltern- und Elternbild zu reparieren.

Es ist Scham, die sie verspüren.

Es ist eine Rechnung offen.

Seelisch krank, schuldig

Rosel Maass’ Eltern fahren nach dem Krieg einen neuen Volkswagen. Auf einer Reise stimmen sie „Die Fahne hoch“ an. „Sie wussten, dass das verboten war, aber sie haben gar nicht wahrgenommen, was es bedeutet, das zu singen.“

Die Breckerfelder Gesenkschmiede wird nach dem Krieg verkauft. Die Schwelmer Konfektionsfirma entwickelt sich wieder zu einem erfolgreichen Unternehmen. Die Firma, heute noch in Familienbesitz, beteiligt sich nicht am Entschädigungsfonds – „sie kann nicht“, sagt Rosel Maass, „der Firma geht es schlecht“. Immerhin: Einmal wurde sie von ihrem Bruder gefragt: „Glaubst du eigentlich, Großvater war gut zu den Zwangsarbeitern?“ Sie hat ihn beruhigt.

Jetzt reden Rosel und Hans Maass, nach 50 Jahren – weil sie „realisieren und zu fühlen wagen, wie sehr wir durch den grauen, ideologischen, militärischen und politischen Alltag des Krieges traumatisiert wurden“. Sie suchen die Auseinandersetzung, die Klärung – weil sie genug Schweigen erlebt haben. Das der Großeltern, der Eltern, ihrer Generation, die nach dem Krieg nach dem Wohlstand glotzte und vergaß, die Trümmer innendrin wegzuräumen. Weil sie die Bilder von der Baracke und der Munitionsfabrik „seelisch krank“ gemacht haben. Weil sie wiedergutmachen wollen, was ihre Großeltern und Eltern hätten wiedergutmachen müssen. „Es ist jetzt dran“, sagt Hans Maass. Es heißt: Sie sind dran.

Hans Maass sagt, er verspüre ein „kollektives Schuldgefühl“ über das, „was wir als Deutsche damals getan haben“. Rosel Maass sagt, sie kann sich „nicht schuldig“ fühlen. Sie war ein Kind im Krieg: unbedarft, unwissend, nicht fragend. „Ich kann jetzt nur“, sagt sie, „Solidarität mit meinen Großeltern üben.“

Jetzt schreiben sie Briefe – einen an den Bundespräsidenten Rau, einen an den Grafen Lambsdorff, den Verhandlungsführer der Bundesregierung in der Entschädigungsfrage. Darin heißt es: „Die Diskussion der letzten Monate und die Weigerung vieler Industriebetriebe, sich an der Entschädigung zu beteiligen, war uns schmerzlich, fast unerträglich.“

Jetzt haben sie überwiesen. Geld aus ihrem Privatvermögen. Geld, das von der Stiftung „Erinnern, Verantwortung und Zukunft“ zu verteilen ist an die noch lebenden Zwangsarbeiter.

Die Bosse zieren sich, die katholische Kirche will erst prüfen, die meisten Kommunen verweisen auf ihre schwierige Finanzlage. Erst 3.100 Unternehmen haben in den Entschädigungsfonds eingezahlt. Von den 5 Milliarden Mark, zu denen sich die Wirtschaft verpflichtet hat, sind erst 3,2 im Topf.

Die Maass sagen: „Wir wollten in das Mosaik des Schreckens ein paar hellere Steinchen einfügen.“

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