Erzählband „Langsame Entfernung“: Ungerührte Erinnerungen
In ihrem Erzählband denkt die Schriftstellerin Gisela Steineckert an die DDR zurück. Ihre Bereitschaft zur Verklärung ist erschreckend.
Die Schriftstellerin Gisela Steineckert, vor einigen Wochen 90 Jahre alt geworden, hat den ersten Lockdown zum Erinnern und Schreiben genutzt. „Langsame Entfernung“ lautet der Titel ihres aktuellen Buches. Zweifellos bietet ihr Leben genug Material für Erinnerungsarbeit. 1931 in Berlin geboren, war sie nach diversen beruflichen Stationen ab 1957 in der DDR freischaffend tätig.
Von 1965 bis 1973 war sie im Oktoberklub aktiv, konnte die Singebewegung als „Mentorin“ auch ideologisch prägen. Ab 1979 gehörte sie dem Komitee für Unterhaltungskunst an, fungierte von 1984 bis 1990 als dessen Präsidentin. Mit 38 Jahren trat sie der SED bei, die sie Mitte 1989 verließ.
Sie verfasste zahlreiche Liedtexte, veröffentlichte Lyrik, Prosa und Essays. Bekannt ist ihr 1986 entstandenes Lied „Als ich fortging“ – ein etwas unklares Liebeslied, in dem es um eine Trennung oder eine Rückkehr geht, wer weiß. Heute wird es oft als ein „Lied zur Wende“ gehört; vielleicht verrät diese Rezeption mehr über ambivalente Gefühle, die manche Menschen gegenüber der Deutschen Einheit haben, sagt eher etwas über unerfüllte Sehnsucht als über das, was Steineckert mit diesen kryptischen Zeilen tatsächlich intendiert haben will. Doch die Sehnsucht des Publikums nach in irgendeiner Weise versöhnter Geschichte spiegelt auch die Bereitschaft der Schriftstellerin, Dinge ins Verklärte zu entrücken.
Steineckert sei immer der Utopie treu geblieben, voller Optimismus, nicht verbittert wie andere, die die DDR verließen – so deutet es die Journalistin des Neuen Deutschland, Irmtraud Gutschke, in einem von Deutschlandfunk Kultur gesendeten Beitrag zum 90. Geburtstag der Dichterin. Eine romantische Optimistin also? Bei der Lektüre von „Langsame Entfernung“ kann man den Eindruck gewinnen, dass dieser „Optimismus“ aus hart zu verteidigenden Dogmen besteht.
Ungeklärtes Verhältnis zur Zeugenschaft
Etwa in der Mitte des Buches findet sich ein mit „Grundsätzlich“ überschriebenes Kapitel. Formuliert eine Schriftstellerin Grundsätze, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich für die Literatur insgesamt ergeben, wie ihr Verhältnis zur Zeugenschaft ist. Das Kapitel beginnt mit: „Ich würde niemals sagen: ‚Die DDR war ein Unrechtsstaat.‘ Weil es auf mich nicht zutrifft, nicht passt.“
Gisela Steineckert: „Langsame Entfernung“. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2021, 192 Seiten, 15 Euro
Eine solche Aussage ist erstaunlich. Nicht, dass der Begriff „Unrechtsstaat“ auf ihre Erfahrungen nicht passt – im Folgenden schildert sie, was die DDR ihr ermöglichte –, sondern dass sie als Schriftstellerin einen Begriff ablehnt, weil er nicht mit ihrem Erleben korreliert, denn es gibt ja Stimmen, die etwas anderes bezeugen können.
Ist es denn nicht auch ein Selbstverständnis von Literatur, solchen Stimmen Gehör zu verschaffen, die für sich selbst nicht sprechen können? Konstituiert sich nicht auch im Konflikt zwischen Ideologie und Individuum die Sprache von Dichtung?
Vermaledeite Selbstbeschneidung
Die Verwendung des Begriffs Unrechtsstaat grundsätzlich auszuschließen, weil er die eigene Erfahrung nicht spiegelt, reduziert literarisches Sprechen auf Selbstbezeugung. Doch es geht Steineckert dabei nicht nur um Persönliches. Sie fährt „grundsätzlich“ fort: „Ich bin in der DDR nie zu einer politischen Lüge gezwungen worden.“
Auch das wirft Fragen auf: Zunächst kann man feststellen, dass hier Ebenen verknüpft werden, für die eine gesonderte Betrachtung lohnt: die Ebene der „politischen Lüge“ und die des „staatlichen Zwangs“. Sie müssen nicht zusammengehören, denn es ist vorstellbar, dass jemand mit einer politischen Lüge einverstanden ist und nicht gezwungen werden muss, sie zu verbreiten. Möglich ist auch, dass jemand eine staatliche Lüge nicht durchschaut und dann in zwangloser Unwissenheit zu ihrem Komplizen wird.
Steineckerts Satz kann nur dann aufschlussreich sein, wenn das Verhältnis der DDR zur Wahrheit geklärt ist. Erst mit einem übergeordneten ethischen Wahrheitsbegriff ließe sich sagen, inwiefern in der DDR Zwang zur Lüge bestand. Dass Steineckert einen solchen Zwang verneint, beantwortet die Frage nach Wahrheit nicht, suggeriert aber eine Wahrhaftigkeit der DDR.
Das Leiden der Anderen
Ähnlich bezeichnend ist auch ihr Satz: „Ich habe eine andere DDR erlebt, als sie mir von genervten Bürgern der DDR geschildert wurde.“ Das wird für sie zutreffen, doch über die DDR sagt es zunächst nur, dass man sie auf verschiedene Weise erleben konnte. Ob anderes Erleben mit „genervt“ hinreichend beschrieben ist, ist fraglich, wenn man an die Opfer denkt, deren Geschichten nicht „genervt“ klingen, sondern Leidensgeschichten sind. Die zerstörten Lebensgeschichten der Menschen, die als „Mauertote“ gelten, erinnern daran. Die Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen erinnert daran. Auch die Literatur hat immer wieder und eindringlich die Erinnerung an solche Geschichten bewahrt.
Das Bezeichnende an Steineckerts „Grundsätzen“ ist, dass sie vorgeben, private Erfahrungen zu sein, doch sie wollen über das Private hinaus, nur das kann solche Sätze überhaupt zu „Grundsätzen“ machen. Steineckert suggeriert, dass das Politische privat ist – und drängt dann mit ihren Privatheiten ins grundsätzlich Politische zurück.
Dem Mauerfall widmet sie nur wenige Zeilen, bindet auch hier die Geschichte zunächst in Privatgeschichte ein. Sie erzählt von einem Offizier am Checkpoint Charlie, ein Freund ihres Mannes, der den Befehl ausgab, keine Schusswaffe zu verwenden. Er habe so die Möglichkeit eröffnet, „dass Menschen ihre eigenen Entscheidungen für oder gegen alles bisher Gelebte treffen können“.
Unmögliche Zukunft
Eine pointierte Drehung des Politischen ins Private, ins Politische zurück – als wäre es überhaupt möglich, sich „für oder gegen das bisher Gelebte“ zu entscheiden, als sei das ein Ansinnen der Menschen gewesen, die die DDR verlassen wollten, als wäre ihre Abwendung nicht eine Hinwendung zu einer anderen möglichen Zukunft gewesen, deswegen, weil eine solche Zukunft in der DDR unmöglich schien.
Beim Betrachten eines Bronzekopf von Hermann Kant konstatiert sie, in diesem bildhauerischen Werk „so viel Wahrheit“ zu erkennen, die sich dann in der Erkenntnis zuspitzt: „Wie unendlich traurig. So lange zu leben und niemals wirklich geliebt zu werden.“ Jahrzehntelange germanistische Forschung darf staunen, dass „die Wahrheit“, die über Kant – von einer Schriftstellerin – erinnert wird, in erster Linie im Herzbruch des Autors zu suchen ist, als sei er Protagonist eines Kitschfilms gewesen. Der von Steineckert betrachtete Bronzekopf ist ästhetische Doppelung von Fassade – einen Blick dahinter riskiert sie nicht.
Wolf Biermann erwähnt sie nur flüchtig, die Ausbürgerung gar nicht. In einem 2014 erschienenen Beitrag für das kommunistische Magazin RotFuchs ist ihre Erinnerung klarer: „Biermann hat es geschafft“, so resümiert sie dort, „dass der DDR nichts anderes blieb, als den Sohn eines ermordeten Widerstandskämpfers, Jude noch dazu, entweder ein- oder auszusperren“.
Gefilterte Erlebnisse
Das also hat Biermann, Sohn eines „Juden noch dazu“, der DDR angetan: Sie so gequält, dass ihr nichts anderes zu tun blieb. Mit 90 bleibt dann die gefilterte Erinnerung an eine DDR, die es im Großen und Ganzen gut gemeint haben will, denn „Ausgrenzung und tatsächlichen Schaden“, so erzählt uns Steineckert, habe sie erst nach 1989 erlebt.
Es ist ein Erinnern, das sich nicht hinauswagt, Selbstvergewisserung von in Bronze geschlagenen Grundsätzlichkeiten – und damit ist es die Kapitulation der Schriftstellerin vor jeder Geschichte, der es gelingen könnte, ihre als Privatheiten getarnte Dogmen zu irritieren. So verstummen die Erinnerungen der Dichterin an genau solchen Punkten, an denen eine solidarische Literatur erst um Worte zu ringen beginnt, um für den Anderen ihre Stimme zu erheben.
Gisela Steineckert hat sich ohne Frage gar nicht verändert in wechselnden Zeiten – das kann auch, so hat es uns Bertolt Brecht mal erzählt, ein Grund sein, um erschreckt zu erbleichen.
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