Erste grüner Ministerpräsident: Heimliche Unterstützer
Winfried Kretschmann ist neuer Landesvater von Baden-Württemberg. Und mindestens zwei Abgeordnete der Opposition stimmten ebenfalls für ihn.
STUTTGART taz | Sabine Kurtz schüttelt immer wieder den Kopf. Dann nimmt die kleine, dunkelhaarige CDU-Abgeordnete ihre Hand zum Kopf und scheint jemandem den Vogel zu zeigen. Wer konnte nur so dumm sein? Wer von uns hat Winfried Kretschmann mitgewählt? Sie läuft hin und her, guckt die schwarz gekleideten Männer neben sich fragend an. Doch ihre Kollegen sind genauso verdutzt.
Die Diskussion, die Grüne und Rote so sehr fürchteten, müssen sich nun CDU und FDP gefallen lassen: Zwei Abweichler aus den eigenen Reihen hätten Kretschmann die Wahl gekostet. Nun haben mindestens zwei Abgeordnete aus der schwarz-gelben Opposition für den ersten grünen Ministerpräsidenten votiert.
73 Ja- zu 65 Nein-Stimmen lautete das Ergebnis. 70 Stimmen hätten ausgereicht, Grün-Rot hat zusammen 71 Stimmen.
Bis Landtagspräsident Willi Stächele das verkündet, muss Kretschmann 39 Minuten zittern. Um 11 Uhr wird die Plenarsitzung im Stuttgarter Landtag eröffnet.
"Es ist sensationell, dass wir ausgerechnet in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten stellen."Claudia Roth, 55, seit 2008 Bundesvorsitzend
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"Wenn es der CDU nicht gelingt, sich zu modernisieren, dann werden die Grünen ihr den Rang als Volkspartei neuen Typs ablaufen." Oswald Metzger, 56, 1994-2002 Grüner Bundestagsabgeordneter, heute stellvertretender Vorsitzender der CDU-Mittelstands-Union Baden-Württemberg
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"Ich finde es lustig, dass Winfried Kretschmann, der bei den Grünen oft in der Minderheit war, plötzlich die Mehrheit des Parlaments und der Bevölkerung hinter sich hat." Antje Vollmer, 67, 1994 - 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags
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"Es müssen knallhart grüne Standpunkte durchgesetzt werden. Die Bürger müssen einen klaren Unterschied zur CDU erkennen können." Gesine Agena, 23, Sprecherin der Grünen Jugend
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"Ich habe eine neue Kaffeemaschine, aber die funktioniert nicht so richtig. Mit der Steuer bin ich im Rückstand, aber das mache ich am Wochenende. Ist heute sonst noch etwas Wichtiges passiert?" Thomas Ebermann, 60, 1987/88 Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, 1990 aus der Partei ausgetreten
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"Das ist ein Durchbruch für die Grünen. Zum ersten Mal werden sie in einem Bundesland die Richtlinien der Politik bestimmen." Hans-Christian Ströbele, 71, seit 1998 Bundestagsabgeordneter, erster Grüner, der ein Direktmandat holte
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"Wir müssen uns jetzt die gleichen Fragen stellen wie die Volksparteien: Es geht nicht mehr nur um Umweltprobleme, sondern etwa auch darum, wie lange der Krankenwagen auf dem Land braucht, bis er beim Unfall ankommt." Robert Habeck, 41, Fraktionsvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein
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"Der heutige Tag wird die Grünen und die Republik verändern. Wir freuen uns, und wir sind uns der Verantwortung bewusst." Cem Özdemir, 45, seit 2008 Bundesvorsitzender
Am Tisch festgekrallt
Ein vorerst letztes Mal nimmt Kretschmann auf seinem Abgeordnetenplatz in der ersten Reihe der Fraktion Platz. Nervös tippelt er mit seinen Fingern auf die Tischplatte, rückt immer wieder seine Aktenmappe zurecht, krallt sich am Tisch fest.
Seit 1980 saß er mit zwei kurzen Unterbrechungen auf diesem Platz und musste von dort aus stets zu konservativen Regierungen aufschauen. 1979 war er Mitgründer der Grünen im Südwesten. Die Liebe zur Natur, sagt er, sei dafür sein "Antrieb" gewesen. "Jaa, jetzt sind die Grünen da", sangen er und seine damaligen Fraktionskollegen 1980, als sie in den Landtag zogen.
31 Jahre später bleibt Kretschmann die meiste Zeit an seinem Platz sitzen, während ein Abgeordneter nach dem anderen in geheimer Wahl seine Stimme abgibt. Die anderen stecken ihre Köpfe zusammen, blättern in der neuen Auflage des Landtags, um sich die Gesichter und Namen der neuen Abgeordneten zu merken. Grünen-Chefin Claudia Roth winkt in einer grellgrünen Jacke strahlend von der Zuschauertribüne herunter.
Einige Tische weiter sitzt Kretschmanns Vorgänger. Mal lässt Stefan Mappus die Schultern hängen und schaut stumm in den Saal, mal scherzt er mit Parteikollegen, die zu ihm kommen. In diesen Momenten schielt er kurz nach oben auf die Tribüne, wo die Presse versammelt ist. Doch kaum einer schaut an diesem Tag zurück.
Die Kameras sind auf Kretschmann gerichtet - und auf die Auszählung der Stimmen in der hintersten Ecke des Saals. Kurz vor der Bekanntgabe des Ergebnisses zuppelt der 62-Jährige noch einmal seine Krawatte zurecht und schaut noch auf seine Fingernägel. Dann die Erlösung. Ein Jubelschrei geht durch den holzvertäfelten Landtag.
Edith Sitzmann, die Kretschmann als Fraktionschefin ablöst, ist die Erste, die ihn beglückwünscht und umarmt. Danach folgen SPD-Landeschef Nils Schmid und SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel. Dieser dreht sich danach um, nimmt beide Arme angewinkelt hoch und tänzelt grinsend an der wartenden Gratulantenmenge vorbei.
Dass seine Sozialdemokraten die nächsten fünf Jahre Juniorpartner sein werden, scheint weniger wichtig als die Genugtuung über den Sieg über die CDU.
"So wahr mir Gott helfe"
Kretschmann bedankt sich anschließend "für das große Vertrauen des Hohen Hauses" und schreitet schließlich nach vorn, um seinen Amtseid zu leisten. "Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe", spricht der gläubige Katholik. Dann geht Kretschmann die zwei Treppenstufen runter und auf der anderen Seite des Landtagspräsidenten wieder rauf. Hier ist sein neuer Platz im Plenarsaal. Auf seinem alten bleiben drei Blumensträuße zurück.
Nach der historischen Plenarsitzung verlässt der Mann als Erster den Raum, der noch bis vor wenigen Wochen auf der Regierungsbank saß: Mappus hat es besonders eilig. Er ist der erste CDU-Regierungschef, der im Südwesten vom Volk abgewählt wurde. Als ob dies nicht schon bitter genug wäre, mussten noch zwei Schwarz-Gelbe den Wechsel endgültig besiegeln.
Die zwei Stimmen aus der Opposition seien ein Auftrag, nicht zu polarisieren, sondern für Zusammenhalt zu sorgen, sagte der neue Ministerpräsident. Sein künftiger Stellvertreter, Schmid, ergänzt: "Einen besseren Start kann man sich kaum denken."
Nach der Mittagspause ist Schmid der erste Minister, der von Kretschmann vereidigt wird. Als Letzte reihte sich Gisela Erler in die Regierungsriege ein. Die neue Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung muss sich an ihren neuen Platz noch gewöhnen: Nach der Vereidigung wollte sie wieder zurück zu ihrem Stuhl nahe dem Ausgang gehen.
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