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Erste Risse in der Mauer des Schweigens

Die blutigen Massaker der letzten Wochen lösen in Frankreich fünf Jahre nach Beginn des Algerien-Konflikts endlich eine Debatte über ein mögliches internationales Eingreifen aus. EU soll politisch vermitteln  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Das letzte große Massaker in Algerien hat in Frankreich die Zungen gelöst. Seit in der Nacht zu Dienstag über 200 Menschen in Benthale, einer Vorstadt der Hauptstadt Algier, niedergemetzelt wurden, melden sich in Paris täglich neue Stimmen zu Wort, die nicht länger Zuschauer bei der Gewaltspirale sein wollen.

Intellektuelle, aber auch sozialistische und konservative Politiker rufen nun plötzlich zur Vermittlung in dem algerischen Konflikt auf, der in den letzten fünf Jahren nach Angaben einheimischer Menschenrechtsgruppen über 120.000 Menschenleben gefordert hat. Sie schlagen dessen „Internationalisierung“ vor und fordern gemeinsame europäische Initiativen. Auch der sozialistische französische Außenminister Hubert Védrine hat dieses Mal mit einem öffentlich erklärten „Entsetzen“ deutlichere Worte gesprochen als üblich.

Ein Abweichen von der offiziellen Linie der strikten Nichteinmischung in die algerischen Verhältnisse lehnt Védrine jedoch weiterhin ab. Die diplomatische Zurückhaltung erklärt sich nicht nur aus der franko-algerischen Kolonialgeschichte und dem brutalen Unabhängigkeitskrieg, der erst vor drei Jahrzehnten endete, sondern auch aus der Anwesenheit von Millionen algerischen Einwanderer in Frankreich und der französischen Sorge vor der Ausdehnung der algerischen Gewalt auf das eigene Land.

Dennoch ist fraglich, ob die Regierung in Paris ihre Linie nicht ändern muß. Denn nach dem dem UN-Generalsekretär Kofi Annan, der das bereits Ende August tat, kommen jetzt aus der Spitze der französischen Sozialistischen Partei dissidente Stimmen.

So sagte der amtierende Parteichef François Hollande nach dem Massaker von Benthala: „Man muß das Problem der Tragödien in Algerien unbedingt internationalisieren. Unsere Empörung allein reicht nicht“. Außerdem verlangte er, daß „Europa seine Stimme hören läßt“.

Einen konkreten Vorschlag für ein europäisches Engagement in Algerien machte der Präsident der Internationalen Menschenrechtsliga (FIDH), Patrick Baudouin. Er hält die Europäische Union, die gegenwärtig Verhandlungen über ein Kooperationsabkommen mit Algerien führt, für den besten Aktionsrahmen. „Algerien muß verständlich gemacht werden, daß diese Diskussionen suspendiert werden, solange es keine spürbaren Fortschritte in der Menschenrechtssituation dort gibt“, sagte er. Der Anstoß für ein derartiges europäisches Vorgehen könnte, so Baudouin, von einer gemeinsamen deutsch-französischen Initiative kommen. Frankreich allein, so seine von vielen Franzosen geteilte Einschätzung, sei nicht der beste Unterhändler für die Algerienfrage. „Herr Staatspräsident, Herr Premierminister, beeilen Sie sich“, hatten bereits in den Tagen vor dem Attentat von Benthala mehrere Dutzend Prominente in einem „Manifest der Ablehnung“ geschrieben – darunter so unterschiedliche Personen wie Frankreichs ehemalige sozialistische First Lady Danielle Mitterrand, der frühere konservative Kulturminister Philippe Douste- Blazy, der Shoah-Regisseur Claude Lanzmann und der Schrifsteller und Gelegenheitsfilmemacher Bernard-Henri Lévy.

In ihrem Manifest verlangen sie eine internationale Algerienkonferenz nach dem Vorbild der Konferenz vom Januar 1995 in Rom, die alle an dem Konflikt beteiligten an einen Tisch bringen soll.

Die Aufbruchssituation gleicht jener zu Anfang des Jahrzehnts, als sich die Crème de la crème der französischen Intelligenzija für die Menschenrechte und gegen die ethnischen Säuberungen in Bosnien engagierte. Auch die Akteure sind dieselben. Bloß hat die Bewußtwerdung im Fall von Algerien entschieden länger gedauert.

Möglicherweise hat dieses Mal die hohe Opferzahl, die von offiziellen algerischen Medien mit 85 Toten entschieden niedriger angegeben wird, eine Rolle gespielt. Einfluß hatte auch das Bild der „Pietá von Benthala“, jener verzweifelten Mutter von acht ermordeten Kindern, das in den vergangenen Tagen über alle Titelseiten ging.

In jedem Fall machte das Massaker von Benthala, das in unmittelbarer Umgebung von Gendarmerie und Militär stattfand, vielen Franzosen klar, daß es in Algieren zumindest eine staatliche Komplizität mit den bislang nie verhafteten und verurteilten nächtlichen Mördern gibt. „Diese Bewußtwerdung der internationalen Öffentlichkeit ist das einzig Positive der letzten Wochen“, sagt Baudouin.

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