Erneute Verhandlung nach 35 Jahren: Die Suche nach dem richtigen Täter
Jahrzehnte nach dem Tod der damals zehnjährigen Ursula Herrmann landet der Fall wieder vor Gericht. Ihr Bruder will Gewissheit.
Auf den ersten Blick ist es ein Zivilprozess wie so viele andere an deutschen Amtsgerichten. Es geht um Schmerzensgeld, eine Summe von 20.000 Euro steht im Raum. Der Kläger, ein 52 Jahre alter Musiklehrer in Augsburg, leidet unter starkem Tinnitus und will dafür entschädigt werden. Doch das Verfahren, das am Donnerstag um 9 Uhr im Sitzungssaal 201 des Amtsgerichts Augsburg beginnt, ist alles andere als alltäglich. Es geht um einen der aufsehenerregendsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte.
Der Kläger, Michael Herrmann, macht für seinen Tinnitus nicht etwa den Verursacher eines Unfalls verantwortlich, sondern den Mann, der seine Schwester Ursula umgebracht hat. Der, so Herrmann, habe durch seine Tat den Strafprozess verursacht, der ihn psychisch so belastet habe, dass es schließlich zu dem Tinnitus gekommen sei. Und genau da fängt es an, unübersichtlich zu werden.
Werner M., der Beklagte, ist zwar rechtskräftig wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge verurteilt worden, doch an seiner Täterschaft gibt es noch immer Zweifel. Nicht nur M. leugnet die Tat bis heute. Auch Herrmann ist sich keineswegs sicher, dass M. der Täter ist. Und wenn, dann kann er es zumindest nicht allein gewesen sein, meint er.
Als Herrmann – Jeans, blaues Sakko, schulterlanges graues Haar – mit seinem Anwalt über die Treppe in den zweiten Stock des Gerichtsgebäudes hochkommt, stürzen sich sofort Kamerateams und Fotografen auf ihn. „Es geht um eventuelle Mittäter und die Frage, ob der Richtige verurteilt wurde“, sagt er den Journalisten.
Tatsächlich? Denn worum es hier genau geht, das wird die zentrale Frage bei dem anschließenden rund eine Stunde dauernden Gerichtstermin sein: Was will der Kläger eigentlich? Wenn Herrmann nicht von der Schuld des Beklagten überzeugt ist, wie kann er ihn dann zur Rechenschaft ziehen wollen? Eine weitere scheinbare Skurrilität dieses Verfahren: Walter Rubach, Anwalt des selbst nicht anwesenden M., sagt, er sei „dankbar“ für diese Klage. Schließlich sei sie auch eine Chance für M.
Zur inneren Ruhe kommen
Richter Harald Meyer scheint nicht ganz zufrieden. Wolle er denn nun Schmerzensgeld oder dass der Fall noch einmal überprüft werde, fragt er Herrmann. „Weder noch“, antwortet dieser. „Ich würde gern wieder zu der inneren Ruhe kommen, wie ich sie vor 2008 hatte.“ Damals war plötzlich ein Verdächtiger präsentiert worden und die gerichtliche Aufarbeitung des Falls ins Rollen gekommen, die Herrmann für seinen Tinnitus verantwortlich macht.
Das eigentliche Verbrechen lag da aber schon 27 Jahre zurück. Rückblick: Es ist der 15. September 1981, abends. Familie Herrmann wartet in Eching am Ammersee auf ihre Tochter. Diese ist mit dem Fahrrad ins Nachbardorf gefahren. Doch sie kommt nicht. Man sucht sie. Man findet sie nicht. Stattdessen kommt wenige Tage später ein Brief, die Buchstaben sind aus der Zeitung ausgeschnitten. 2 Millionen D-Mark fordert der Absender. Und dann immer wieder Anrufe, bei denen nichts zu hören ist als eine kurze Tonfolge: C-F-F-A-A-C-A. Die Erkennungsmelodie des Radiosenders Bayern 3.
Anfang Oktober dann die schreckliche Gewissheit: Ursula ist tot, war es schon die ganze Zeit. Auf dem Nachhauseweg, so rekonstruierte die Kripo, wurde sie vom Fahrrad gerissen und in eine winzige Holzkiste gesteckt, die man im Waldboden vergraben hatte. Ursula bekam nicht genügend Sauerstoff. Schon nach wenigen Stunden, so die Gerichtsmediziner, muss das Mädchen tot gewesen sein.
Geständnis widerrufen
27 Jahre später wird in Schleswig-Holstein ein Verdächtiger festgenommen, der zur Zeit von Ursulas Verschwinden in der Nachbarschaft der Familie Herrmann lebte: M. Der beteuert seine Unschuld, wird aber in einem langwierigen Indizienprozess in Augsburg verurteilt. Die wichtigsten Hinweise auf M.s Täterschaft sind ein Tonbandgerät, das besondere Merkmale aufweist und einer Gutachterin zufolge vermutlich bei den Erpresseranrufen zum Einsatz kam, sowie das Geständnis eines Mannes, der angab, für M. die Grube im Wald gegraben zu haben – ein Geständnis, das er später allerdings widerrufen hat.
Michael Herrmann hatte mit der Sache damals eigentlich schon abgeschlossen. Das Wichtigste für die Familie, erzählt er, sei gewesen zu wissen, dass Ursula wohl keinen qualvollen Todeskampf hatte. Sie sei wohl betäubt gewesen, als man sie in die Kiste gesteckt habe, und aus dieser Betäubung gar nicht mehr aufgewacht. An dem Prozess nimmt Michael Herrmann für seine Eltern als Nebenkläger teil, kniet sich ins Aktenstudium – und verliert das, was er seine innere Ruhe nennt.
Richter Meyer deutete bereits an, dass das Gericht in eine erneute Beweisaufnahme einsteigen werde. Genaueres wird er am 14. Juli bekanntgeben.
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