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Ermittlungen im Kentler-FallSenat muss Licht ins Dunkel bringen

Nina Apin
Kommentar von Nina Apin

Die Ermittlungen rund um das „Kentler-Experiment“ werden eingestellt – doch das darf kein Abschluss des Falls sein. Ein Wochenkommentar.

Berliner Jugendämter vermittelten jahrzehntelang Kinder und Jugendliche an Pädophile Foto: dpa

L eben wurden zerstört – und hinterher will es keiner gewesen sein. Dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man hört, dass die Staatsanwaltschaft, wie am Donnerstag bekannt wurde, die Ermittlungen im Fall Kentler eingestellt hat.

Was unter dem Namen „Kentler-Experiment“ bekannt geworden ist, zählt zu den größten pädagogischen Skandalen der Nachkriegszeit: Das Jugendamt Kreuzberg und das Jugendamt Tempelhof-Schöneberg vermittelten rund 30 Jahre lang Jungen an vorbestrafte Pädosexuelle. Diese galten, laut eines Gutachtens des umstrittenen Sexualpädagogen Helmut Kentler, als besonders geeignet für „schwierige“ Kinder.

Noch bis ins Jahr 2001 bestanden solche Pflegestellen, eine Lizenz zum Kindesmissbrauch. Lange nahm niemand Notiz davon – erst 2015, nachdem Medienberichte die Vorgänge offenlegten, ließ der Senat die Vorfälle untersuchen. Ein erstes Gutachten konnte nicht klären, wer für das ungeheuerliche Experiment verantwortlich war. Dafür meldeten sich drei Betroffene – und berichteten von jahrelanger systematischer sexueller und psychischer Gewalt.

Zwei der Männer, die bei dem Pflegevater Fritz H. untergebracht wurden, erstatteten Anzeige gegen einen Jugendamtsmitarbeiter. Er soll von der Neigung des Pflegevaters gewusst und jahrelang konkrete Hinweise auf körperliche und sexuelle Gewalt ignoriert haben.

Chaos bei der Berliner Verwaltung

Doch all das ist lange her. Und die chaotische Aktenlage, durch die sich die Ermittler zwei Jahre lang gewühlt haben, wirft ein Licht auf die Zustände in der Berliner Verwaltung: Noch nicht einmal ein Organigramm des damaligen Jugendsenats konnte aufgetrieben werden.

Noch bis ins Jahr 2001 bestanden solche Pflegestellen, eine Lizenz zum Kindesmissbrauch

Die Ermittlungen liefen ins Leere. Für eine Mittäterschaft des Jugendamtsmitarbeiters, der später ein Bezirksamt leitete, gebe es keine Anhaltspunkte, so die Staatsanwaltschaft. Der beschuldigte Pflegevater ist verstorben, den Betroffenen bleibt nur noch die Zivilklage.

Akte zu, Ende? Das wäre schlimm. Jemand muss Verantwortung übernehmen für das Unrecht, das den Pflegekindern angetan wurde. Ein zweites Gutachten der Uni Hildesheim steht noch aus. Der Berliner Senat muss die ForscherInnen ohne Wenn und Aber dabei unterstützen, Licht in die politischen Strukturen zu bringen, die dieses „Experiment“ ermöglichten. An einem Organigramm sollte es nicht scheitern.

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Nina Apin
Kultur/Politisches Buch
Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag. Seit Dezember 2024 ist sie Redakteurin im Kulturressort und betreut zusammen mit Ulrich Gutmair das Politische Buch.
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2 Kommentare

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  • Ein Organigramm sollte sich mit Hilfe der Personalakten erstellen lassen. Alle Zahlungen, die über die Jugendämter laufen, werden bei der Landeshauptkasse Berlin gebucht, die Unterlagen mindestens 50, in bestimmten Fällen auch 70 Jahre aufbewahrt. Sie können über einen Rechtsanwalt angefordert werden. Aus den Akten geht hervor, welche JugendamtsmitarbeiterInnen zuständig waren www.berlin.de/sen/...e/artikel.7112.php.

  • Wenn Aufarbeitung scheitert, dann immer an Organigrammen. Die nämlich zeigen schonungslos auf, wo Zusammenhänge bestehen. Wobei schonungslos heißt, dass nicht nach Gründen für die Abhängigkeit gesucht wird.

    Das aber ist die eigentliche Ursache des Problems: Es geht nicht um Urteile, sondern um (Vor-)Verurteilung. Es geht nicht um Verantwortung, sondern um Schuld. Es geht nicht um Wiedergutmachung oder um Prävention, sondern um Macht. Um Macht und um die Chance zum Machtmissbrauch.

    Das alles könnte man lernen aus dem „Kentre-Experiment“. Will man aber nicht. Man will, dass alles beim Alten bleibt. Man will, dass man nicht trauern muss um sein verpfuschtes Leben, das man mit Kriminellen verbringen musste auf Geheiß früherer Machthaber. Lieber „therapiert“ man sich selber. So, wie es AfD-Wähler tun.