Ermittlungen gegen Politiker eingestellt: Die Unschuld des Sohnes
Laut Staatsanwaltschaft hat der Sozialbetrug in Bremerhaven 5,5 Millionen Euro Schaden verursacht – und geht auf die Kappe des Vaters von Politiker Patrick Öztürk.
Agentur für Beschäftigung und Integration und Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming – so wohltätig klingen die Namen der Vereine, die Öztürk ordentlich im Register hat eintragen lassen. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA), den die Bremische Bürgerschaft zum Bremerhavener Sozialbetrug-Skandal eingerichtet hatte, vermutete gar, dass die Vereine „gezielt gegründet wurden, um missbräuchlich Fördermittel zu generieren“.
So weit geht die Staatsanwaltschaft nicht, im Gegenteil: Sie geht davon aus, dass die Vereine mindestens teilweise ihren Zweck erfüllt haben. So sei dort etwa Nachhilfe für migrantische Kinder erteilt worden.
Die Ermittler glauben aber, beweisen zu können, dass Vater Öztürk sein Amt als Vereinsvorsitzender genutzt hat, um gegen Entgelt mehr als 500 meist bulgarischen Wanderarbeitern gefakte Arbeitsverträge auszustellen. Mit denen hätten die Arbeiter einen Anspruch auf Transferleistungen nach dem Sozialgesetzbuch vortäuschen können, sagt Oberstaatsanwalt Kuhn.
Den Schaden, der dem Jobcenter dadurch entstanden ist, beziffert die Staatsanwaltschaft auf 5,5 Millionen Euro, die als Leistungen ohne jegliche Rechtsgrundlage bezogenen wurden. „Die sind weg“, stellt Kuhn klar.
Wohin – das ist so leicht nicht zu klären. Nominell sind sie bei den mehr als 500 Antragstellern gelandet, die an Papa Öztürk eine Art Provision abgeführt haben sollen. In bar. Bargeldzahlungen sind günstig, weil sie keine Spuren hinterlassen, nicht rückzuverfolgen sind. In dem Zusammenhang scheint bemerkenswert, dass Selim Öztürk bis Januar 2015 einen Shop der Western Union betrieb, ein Anbieter weltweiter Bargeldtransfers.
Durch die Befragung von über 200 Zeugen glauben die Ermittler, dem Beschuldigten Selim Öztürk immerhin 37.000 Euro rechtswidrige Einnahmen aus dem Betrugssystem gerichtsfest nachweisen zu können. Komplett im Sande verlaufen sind indes die Bemühungen, auch die Söhne als Teil des Betrugssystem darzustellen: Es sei nicht einmal zu klären gewesen, ob Patrick Öztürk, der aufgrund der Ermittlungen aus der SPD-Fraktion ausgetretene Bürgerschaftsabgeordnete, von den Manipulationen des Vaters in irgendeiner Weise Kenntnis gehabt habe, so Kuhn.
Sein elektronischer Schriftverkehr – laut Kuhn haben die Ermittler*innen „immerhin 200.000 e-Mails ausgewertet“ – spiele an keiner Stelle auf das kriminelle Handeln an. „Soweit er e-Mails bezüglich der Vereine geschrieben hat, ist es beispielsweise um Fragen betrefflich des Nachhilfe-Projekts gegangen“, an dem er für den Verein gearbeitet hat.
Weitere Ermittlungen wegen Untreue
Und auch „aus seinen Konten ergeben sich keinerlei Hinweise für seine Teilnahme an den Betrugshandlungen.“ Damit sei der Hauptvorwurf gegen seinen Mandanten „wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen“, kommentiert Patrick Öztürks Verteidiger Helmut Pollähne. Auch von den weiteren Verdächtigungen werde am Ende „nichts übrig bleiben“. Gemeint ist damit ein Untreue-Vorwurf, zu dem weiterhin ermittelt wird.
Anhaltspunkt für den sind zwei Zahlungen von insgesamt 50.000 Euro, die aus dem Vereinsvermögen an den in der SPD engagierten stellvertretenden Vorsitzenden Patrick Öztürk gingen. „Für die gibt es keine erkennbare Gegenleistung“, sagt Kuhn.
Schroffer Widerspruch
Allerdings hat Öztürk junior ja diverse Tätigkeiten für den Verein übernommen – und dass die Ermittler bislang keine Verträge gefunden haben, die diese Zahlungen plausibilisieren, hat so viel nicht zu sagen: Honorarvereinbarungen per Handschlag sind in Vereinen und familären Unternehmungen so unüblich nicht. Und beide Vereine waren ja „stark auf die Familie Öztürk ausgerichtet“, formuliert der Abschlussbericht des PUA einen Konsens.
An anderer Stelle ergibt sich jedoch ein schroffer Widerspruch zum Ergebnis der Profi-Ermittler: Die Abgeordneten erklären für „bestätigt“, dass Vater und Sohn „gemeinsam“ ein „System zur Erlangung von Sozialleistungen angelegt und umgesetzt“ hätten. Belege dafür fehlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren