Erkundungen in der russischen Provinz: Geschichte, Gülle, Gängelei
Das Städtchen Pskow liegt ganz im Westen Russlands. Der kriegerische Ton Moskaus kommt bei den Bewohnern nicht so gut an.
Für nicht wenige ist das Kloster auch ein Vorposten der rechtgläubigen Rus, seit sich Russland wieder vom Westen abkapselt. Ein schauriges Geheimnis birgt die heilige Stätte. Sie hält Tote am Leben. Sozusagen. In der Nekropole unter dem Kloster sollen Tausende Mumien ruhen. Geologie und Klima konservieren die Körper, erzählt die Reiseführerin Julia. Es klingt wie eine Metapher für Russlands derzeitige Verfassung.
Die 35-Jährige ist selbständig und betreut Touristen, die auf eigene Faust Russlands Westen erkunden wollen. Vor allem Russen. „Ich kann mich vor Anfragen kaum retten“, erzählt sie. Die Geschichte hätte die Region um Pskow ja üppig bedacht, sagt die zierliche Frau. Der Raum war hart umkämpft, zwei Welten trafen hier aufeinander, aus denen sich unterschiedliche Zivilisationsmodelle herausschälten. Auf russischer Seite siegte zuletzt die Deutung ewiger Bedrohung aus dem Westen und standhafter Gegenwehr.
Legendäre Fallschirmjäger
Natürlich lässt sich die Geschichte auch anders erzählen. Als Version eines russischen Kernlandes etwa, das anfangs durchaus nach Westen blickte. Der Historiker Lew Schlosberg wird nicht müde, auch an diese Traditionen zu erinnern. An die unabhängigen mittelalterlichen Stadtrepubliken Nowgorod und Pskow beispielsweise, die Teil der Hanse waren. Schlosberg ist nicht nur der bekannteste Oppositionspolitiker in Pskow. Der 53-Jährige ist einer der unerschrockensten Männer im ganzen Land. Er tritt am kommenden Sonntag für die Oppositionspartei Jabloko zur Duma-Wahl an. Äußerlich kein Heldentypus, klein, untersetzt, immer gedankenverloren.
Als der Kreml 2014 die Ostukraine besetzte, war es Lew Schlosberg, der die namenlosen Gräber gefallener Fallschirmjäger aufdeckte. Verstohlen waren sie in der Umgebung von Pskow beigesetzt worden. Russland leugnet bis heute den Einsatz regulärer Soldaten.
Kurz darauf wurde Schlosberg, damals Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija (PG), auf der Straße zusammengeschlagen. Die Täter wurden nie gefasst. Ein Überfall in einer verschlafenen Provinzstadt, wo das Auge, wohin es auch schaut, auf eine der 40 großen Kirchen stößt. Selbst aus dem Fenster der Bahnhofstoilette. Seither kennt Russland Schlosberg.
Die Pskower Fallschirmjäger sind eine nationale Legende. 1968 schlugen sie die Reformbewegung des Prager Frühlings mit nieder, vor Kurzem verlegte Moskau sie an die ukrainische Grenze.
Seine militärische Präsenz will Russland nun auch an der Grenze zum Baltikum verstärken. „Das wird die Atmosphäre verändern“, fürchtet Denis Kamalagin, der junge neue Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija. 10.000 Soldaten würden die Umgebung überfordern, sagt er vorsichtig. Was meint er damit? Alkohol, Prügeleien?
Der kleine Grenzverkehr läuft
Die Menschen in Pskow stehen den Nachbarn in Lettland und Estland nicht feindselig gegenüber. Im Gegenteil, Moskaus kriegerischer Ton kommt hier nicht gut an. Zwanzig Prozent der Bewohner in Grenznähe sind Staatsbürger Russlands und der EU. Mehr Menschen mit zwei Pässen gibt es sonst nirgends. Auch der kleine Grenzverkehr läuft.
Wer keinen zweiten Pass besitzt, besorgt sich ein Schengenvisum. „Wegen des schlechten Rubelkurses fahren wir jetzt seltener rüber“, sagt die junge Verkäuferin im Supermarkt, die früher regelmäßig nach Tartu zum Shoppen fuhr und dort Käse kaufte. Denn Käse aus dem Westen darf derzeit nicht importiert werden – als Antwort Russlands auf die EU-Sanktionen. „Weil es billiger geworden ist, kaufen die Esten jetzt mehr bei uns ein“, sagt die junge Frau.
Das Arbeitszimmer von Pskows Bürgermeister Iwan Zezerski ist bescheiden. Außer zwei Tischen beherbergt es drei Fahnen: die Russlands, Pskows und die der Kremlpartei mit dem Bären. Die eleganten Vorzimmerdamen gebieten über mehr Raum. Zezerski klagt nicht, die Sanktionen stören ihn aber. Sie vermasseln ihm die zweite Tranche eines Kredits der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Mit diesem Geld wollte er ein Trinkwasserproblem lösen. „Jetzt liegt das Projekt auf Eis, in Russland findet sich kein Investor.“ Was den Beamten auch ärgert: Eine deutsche Brauerei schlich sich sang- und klanglos davon. Vor den Sanktionen hatte sie sich als Sponsor des Hansetages 2019 in Pskow angeboten.
Der Hansetag kommt dennoch
Fürchtet er Nato und Estlands Truppen vor der Haustür? Zezerski holt Luft, die Mitarbeiterin lacht schallend. Auf die leichte Schulter sei die Gefahr militärischer Eskalation nicht zu nehmen, sagt er mit erhobenem Zeigefinger zur Assistentin. Zezerski ist ein alter Hase. Er weiß, dass er den Kreml auch an der Stadtgrenze verteidigen muss.
Der Hansetag wurde an Pskow vergeben, als Moskau den Westen noch nicht zum Gegner ausgerufen hatte. Pskows Anbindung an eine andere Welt wollte schon das mittelalterliche Moskau nicht hinnehmen. Die selbständige Republik war den Herrschern ein Dorn im Auge wie auch die benachbarte Hansestadt Nowgorod. Im Historischen Museum findet sich denn auch zur Hanse kein Hinweis. Sibyllinische Formulierungen umschreiben den gewaltsamen Anschluss an Moskau. „Das werden wir auf jeden Fall noch ändern“, sagt Bürgermeister Zezerski energisch.
Doch das Bild der belagerten Festung darf keine Risse erhalten. Am Südufer des Peipus-Sees, nördlich von Pskow, wachen 500 Tonnen Metall darüber. Ein Denkmal für Alexander Newski, der 1242 in der Schlacht auf dem diesem See den Deutschen Orden bezwang. Es steht im Grünen am Rande der landwirtschaftlichen Kolchose „Pobeda“, zu Deutsch: Sieg. Durch den See zieht sich heute die EU-Außengrenze.
Altgediente Nationalhelden
Newski ist der dienstälteste Nationalheld. Er schlug die Deutschritter, stärkte die Orthodoxie und Moskaus Einfluss. Doch zu welchem Preis? Der Fürst machte sich mit den Mongolen der Goldenen Horde gemein. Doch Newskis Vermächtnis ist lebendig. Außenminister Sergej Lawrow drechselte daraus ein neues außenpolitisches Leitmotiv: Vor dem Westen auf der Hut sein – im Osten auf starke Verbündete bauen. Der Kreml verkauft es den Russen als Wende nach China.
Geschichte ist das Pfund, womit die Region wuchert. Doch dem beschaulichen Pskow mit rund 200.000 Einwohnern geht es nicht gut. Die vielen Obdachlosen auf den Straßen verraten es. Sie laufen den Touristen hinterher, von Kirche zu Kirche, in der Hoffnung auf Almosen. Jeder fünfte Bewohner Pskows lebt unter dem Existenzminimum. Industrieunternehmen haben sich zurückgezogen. In den letzten sechs Jahren ist die Bevölkerung in der Region um sechs Prozent geschrumpft. „Schneller als im Zweiten Weltkrieg“, schreibt die Lokalpresse.
„Stattdessen haben wir dreimal so viele Schweine wie Einwohner – rund zwei Millionen“, sagt Alexander Konoschenko amüsiert. Der Chef des Bauernverbandes beklagt die rücksichtslose Ansiedlung von gigantischen Viehzuchtkonzernen, die mit dem Kreml verbandelt und unangreifbar sind. Für die wenigen Kleinbauern fiele kaum noch ein Rubel Förderung ab. Was ihn jedoch besonders ärgert: Die Nach-mir-die-Sintflut-Haltung der Konzerne. „Sie kippen die Gülle weg und versauen die Böden.“
Die Dörfer sterben aus
Ein Viertel der Dörfer sei ausgestorben, „in einem Drittel leben noch vier, fünf Bewohner“, sagt Konoschenko. Von Tausenden Bauernstellen in den 1990er Jahren seien nur noch einige Hundert übrig. Gerade erst ist er vom Traktor geklettert. Der vierschrötige Kerl liebt Hof und Beruf. Von Politik will er aber auch nicht lassen. „Wenn du dich nicht in die Politik einschaltest, kommt sie zu dir“, lautet sein Leitspruch. Als Kandidat der oppositionellen Jabloko-Partei kandidiert er sowohl für das Stadtparlament in Pskow als auch für die Staats-Duma in Moskau. Zu Hause könnte es klappen, meint er.
Bei der Sterbe- und Geburtenrate bildet Pskow ebenfalls das Schlusslicht. Und nirgends in Russland haben Familien ein noch geringeres Einkommen. Die Balten jenseits der Grenze seien auch leidgeprüft, sagt Konoschenko. „Aber im Vergleich zu uns haben sie seit der Unabhängigkeit einen gewaltigen Sprung gemacht.“
Geschichte und Patriotismus müssen das Wirtschaftsgefälle ausgleichen. Dafür eignet sich die Kremlanlage von Isborsk zwischen Pskow und Petschora. Das Bollwerk zählt zu den ältesten der Rus. Inzwischen haben rote, braune und rotbraune Intellektuelle den Ort gekapert. Hinter dem Isborsker Klub – dem „Thing tank“ – verbirgt sich das Reaktionärste, was Russland zu bieten hat. Ideologen wie der Eurasier Alexander Dugin, der stalinistische Publizist Alexander Prochanow oder Putins erratischer Wirtschaftsberater Sergej Glasjew gehören dem Orden an.
Auf einer Anhöhe in der Nachbarschaft errichteten sie ein gewaltiges orthodoxes Kreuz auf steinernem Podest. In einer Holzhütte werden Bodenproben registriert, die Pilger aus fernen Ecken des Landes mitbringen und die ein Wächter zu höherwertiger russischer Erde mischt. In Isborsk fiebert Russland – zwischen Ressentiment und Selbstüberhöhung. Millionen Rubel hat das Vorhaben verschlungen. Reiseführerin Julia zeigt auf das Mauerwerk. Riesige Brocken lösen sich aus dem Putz. Auch das nationale Heiligtum ist von Korruption nicht ausgenommen. Die Spur führt direkt ins Kulturministerium.
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