Kommentar Repression in Russland: Das Werk geweihter Schlichtgemüter
Das Meinungsforschungsinstitut „Lewada“ wurde zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Der Autoritarismus droht in Totalitarismus umzukippen.
Es wäre nicht nötig gewesen, Russlands einziges unabhängiges Meinungsforschungsinstitut – das Lewada-Zentrum – zum „ausländischen Agenten“ zu erklären. Die Duma-Wahlen wird die Kreml-Partei „Einiges Russland“ (ER) in knapp zwei Wochen auch so gewinnen. Wahlausgänge in autoritären Systemen sind eine sichere Sache. Sollte es ungemütlicher werden, dann erst danach. Demokratien funktionieren umgekehrt, auf offene Wahlen folgt ein eingespieltes Verfahren.
Dass das Justizministerium mit dem Agenten-Stempel hantiert, ist ebenso unnötig wie kurzsichtig. Schaden und Nutzen stehen in keinem Verhältnis. Kreml und Gesellschaft verlieren einen sicheren Gradmesser und zuverlässige Rückendeckung. Denn Lewadas Wahlumfragen weichen von denen staatlicher Institute nicht wesentlich ab. Ähnliche Resultate eines unabhängigen und wirtschaftlich selbständigen Kontrahenten verschaffen der Führung gleichwohl mehr Legitimation als Daten aus der eigenen Küche.
Warum sollte der Kreml sich dieses wichtigen, glaubwürdigen und kostenneutralen Wahlhelfers entledigen? Sinn würde dies nur machen, wenn die Führung Einblicke in die Zeit danach besäße. Beunruhigende Einblicke, die es vor der Öffentlichkeit noch zu verbergen gilt. Doch das ist Spekulation.
Daher sieht die Stigmatisierung Lewadas eher nicht nach einem Auftrag von ganz oben aus. Vielmehr scheint eine Tendenz dahinter auf, die spätestens seit der Annexion der Krim immer weiter um sich greift. Die selbstgewählte Isolation gegenüber einer vermeintlich feindseligen Außenwelt verleitet die Gemüter nun auch im Inneren zur Denunziation. Auf allen erdenklichen Wegen signalisieren sie dem großen Anführer Treue und Loyalität.
Der Lewada-Antrag stammte von der Antimaidan-Bewegung, die die ukrainische Revolution verabscheut und grundsätzlich allen liberalen Kräften mit dem „gewaltsamen Kampf“ droht. Sie liegt Wladimir Putin zu Füßen. Kurzum: es ist eine Bruderschaft aus Rockern, Kampfsportlern und staatlich geweihten Schlichtgemütern. Ihr Wort zählt, ihre Methoden kritisiert niemand. Zu befürchten ist: mit ihnen überschreitet Russland die Grenze vom Autoritarismus zum Totalitarismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben