: Erkundungen eines historischen Terrains
Gewaltige Möglichkeiten bestanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Martin Mosebach beschreibt sie in seinem historischen Roman „Der Nebelfürst“ – und lässt nicht die Entdecker und Erfinder, sondern die Halbwelt siegen
Wir schreiben das Jahr 1898. Da hockt der inspirierte, aber gnadenlos unter Wert geschlagene Journalist Theodor Lerner, bläst Trübsal und denkt über größere Aufgaben nach. „Man konnte auch Reiseschriftsteller werden. Solche Leute ritten auf Elephanten zur Tigerjagd.“ Die Welt ist so weit – doch wie kann man sie nur kennen lernen?
Wenige Kilometer entfernt sitzen derweil die beiden alten Streithähne Dubslav v. Stechlin und Pastor Lorenzen wieder einmal zusammen und disputieren über das Heldische. Nein, sein Heldentum, so lässt Theodor Fontane im „Stechlin“ seinen Pastor orakeln, sei längst schon nicht mehr auf dem Schlachtfeld zu Hause, nein, Beispiele fürs Heldentum in neuerer Zeit seien vielmehr fanatische Erfinder, große Kletterer und Steiger, Weltteildurchquerer und Nordpolfahrer. Und man geht wieder einmal im Streit auseinander.
Martin Mosebachs neuer Roman ist wieder so gnadenlos unterkomplex wie bereits sein Vorgänger „Eine lange Nacht“; diesmal handelt es sich jedoch um einen historischen Roman – und zwar um einen, der sich durchaus am Modell und Projekt des alten Fontane versucht. Neuposthochdeutsch: ein intertextuelles Spiel. Am selben Tag nämlich, da sich Lorenzen und Dubslav v. Stechlin getroffen haben, vielleicht ein wenig später, so möchte ich es mir vorstellen, begegnet Theodor Lerner seiner Muse, Frau Hanhaus, die, nachdem die störende sexuelle Dimension gleich zu Anfang souverän ausgeschaltet worden ist, zur mütterlichen Freundin, Ratgeberin und unermüdlichen Anstifterin avanciert. Man müsse nämlich endlich die Chancen der Zeit erkennen und ergreifen. Eine gewaltige Möglichkeit könnte, so Frau Hanhaus’ noch vage Idee, darin liegen, Lerners Fahrt in den hohen Norden, wohin ihn sein Arbeitgeber expediert hat, um dort nach einem verschollenen Ballonfahrer zu suchen, gleichzeitig noch zu nutzen, um das Terrain zu erkunden und nach Exploitationsmöglichkeiten zu fahnden.
Gesagt, getan. Die Reise findet statt und schlägt mehr oder minder fehl, da keine Spur des Verschollenen aufzutreiben ist; stattdessen gibt es ein kleines Scharmützel mit einem russischen Schiff vor der Bäreninsel. Was den Elan von Frau Hanhaus jedoch nur umso mehr anstachelt; sie sieht die größte Gelegenheit ihres Lebens gekommen, um mit taktischem Geschick, Einfühlungsvermögen und Einsatz anderer Reize die deutsche Hochfinanz und potente Unternehmer davon zu überzeugen, in ihr Projekt – den Abbau vermuteter Kohlereichtümer der Insel – zu investieren. Sie scheut keine Wege und Mittel (die allerdings äußerst knapp sind), verfällt schließlich noch auf die Idee, in Gestalt des russischen Diplomaten Gawrilovich ihre Vision zu realisieren. Doch nix iss. Allein es fehlen, wie soll man sagen, Mut und Entschlossenheit bei den anderen.
Es mag im Deutschen Reich – wir schreiben inzwischen das Jahr 1900, in dem die Zeitgenossen das Jahrhundert des Kindes, des Friedens und Fortschritts heraufziehen gesehen haben – immer noch zu viele Dubslavs v. Stechlin geben. Ein Pastor Lorenzen, so divinatorisch seine Ansichten auch ausgeschaut haben, war da in der Minderheit. Gott sei Dank vielleicht. Denn wohin das viele Kapital tatsächlich geflossen wäre, hätte Frau Hanhaus samt ihrem Adlatus deutsche oder russische Quellen angezapft, können wir nur ahnen und dämmert Theodor ganz am Ende der Geschichte seiner Fehlschläge: nämlich irgendwo in Frau Hanhaus’ rosigen Speckfältchen. Man muss sich halt irgendwie durchschlagen, so würde sie sich herausgewunden haben.
Mosebachs historischer Roman, der überaus genau den Stil und Geschmack des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschreibt, dabei witzig und mild humoristisch drapiert ist, verzettelt sich nicht, obwohl er durchaus die Signatur der Zeit als ein Gemisch aus Plüschbehaglichkeit und Nervosität ausweist, in rasantem Aktionismus und hektischer Betriebsamkeit. Nein, seine Aufmerksamkeit gilt vielmehr den liebenswerten Spinnern und Hochstaplern, jener Demi-monde, die gewiss nicht die neuen Helden und Götter vorstellen, von denen der gute Pastor Lorenzen mutmaßte, dass sie dermaleinst die Geschicke des 20. Jahrhunderts lenken würden.
WERNER JUNG
Martin Mosebach: „Der Nebelfürst“. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001, 350 Seiten, 27,61 € (54 DM)
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